Frankfurter Neue Presse, 29.9.2000 Türkei vor historischer Reform Von Claudia Steiner Istanbul/Ankara. Wenn in der Türkei am 1. Oktober das Parlament nach der Sommerpause wieder zusammentritt, sind die Abgeordneten zu historischen Reformschritten aufgefordert. Dahinter steht vor allem der Wunsch des Landes, Mitglied der Europäischen Union zu werden. Die EU verlangt von Ankara vor allem Verbesserungen bei den Menschenrechten und der Meinungsfreiheit sowie die Abschaffung der Todesstrafe. Doch die Koalition aus Demokratischer Linkspartei (DSP) von Ministerpräsident Bülent Ecevit, der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) von Devlet Bahceli und der Mutterlandspartei (Anap) von Mesut Yilmaz ist nicht einig. Vor kurzem versprach Ecevit zwar erneut schnelle Reformen. Die Regierung will mehr Meinungsfreiheit schaffen, Folter bekämpfen und den Ausnahmezustand in den vier Kurden-Provinzen aufheben. Doch über die Abschaffung der Todesstrafe verlor Ecevit kein Wort. Dabei hatte er sich schon mehrfach dafür ausgesprochen, sie möglichst schnell abzuschaffen. Das letzte Todesurteil war 1984 vollstreckt worden. Die MHP, die bei der Wahl im vergangenen Jahr mit einem harten Kurs gegen PKK-Chef Abdullah Öcalan auf Stimmenfang gegangen war, will jedoch zunächst den zum Tode verurteilten Chef der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) am Galgen sehen. Die MHP stellt sich bisher auch quer bei der Änderung von Artikel 312 des Strafgesetzbuches. Auf Grund dieses Artikels, der die Aufstachelung zu Feindschaft durch Aufzeigen etwa von Rassen- oder Religionsunterschieden unter Strafe stellt, sind zahlreiche Menschenrechtler, Journalisten und Politiker zu Haft verurteilt worden. Dazu gehört auch Ex-Regierungschef und Islamist Necmettin Erbakan. Außerdem steht eine Reform der Verfassung an. Menschenrechtsgruppen fordern sogar, die Verfassung ganz neu zu schreiben. Welchen EU-Forderungen die Türkei noch nachkommen muss, wird sie im November erfahren. Dann wird die EU das Dokument zur Beitrittspartnerschaft mit den notwendigen Reformen vorlegen. Anschließend soll die Türkei Brüssel über geplante Schritte informieren. Dabei könnte die Arbeit des Parlaments schon bald lahm gelegt werden: Voraussichtlich im Oktober wird das Verfassungsgericht über ein Verbot der islamistischen Tugend-Partei (FP), der Hauptopposition mit 103 Abgeordneten, entscheiden. Sollte die FP ebenso wie ihre Vorgängerpartei, die Wohlfahrtspartei (RP), verboten werden, stünden Nachwahlen an. In der türkischen Presse wird ein mögliches Verbot der islamistischen FP durchaus kritisch gesehen, weil damit auch die größte Opposition wegfallen würde. "Das würde natürlich einen Schatten auf unsere Demokratie werden", meinte Ilnur Cevik in der "Turkish Daily News".
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