Frankfurter Rundschau, 2.10.2000 Das hässliche Gesicht der Okkupation Nach den schweren Unruhen in Ost-Jerusalem werden Erinnerungen an die schlimmsten Zeiten der Intifada wach Von Inge Günther (Jerusalem) Für eine Spur von Normalität sorgen nur die Touristengrüppchen, die wie immer durch die Gassen der Altstadt pilgern. Auch an diesem Wochenende, das an allen Ecken die Zeichen des Ausnahmezustandes trägt. Die Präsens israelischer Soldaten und Sondereinheiten außerhalb der ehrwürdigen Stadtmauern wie inmitten der Viertel - ob sie nun moslemisch, jüdisch, christlich oder armenisch sind - fällt durch ein seit Jahren unerreichtes Ausmaß auf. Ebenso die mal verhaltene, mal offen zur Schau getragene Wut der Palästinenser. Ihre Geschäfte sind wegen Generalstreiks geschlossen. Ost-Jerusalem zeigt das hässliche Gesicht der Okkupation. Seit der Schlacht vom vergangenen Freitag hat die Spannung kaum nachgelassen, ist nach wie vor fast sinnlich spürbar. Selbst die Kinder haben kaum einen Gedanken an etwas anderes. Auch Mussa nicht, ein arabischer Junge mit einem Rest von Babyspeck. Wie auch, der Elfjährige lebt mit seiner Familie direkt an Bab el Silsileh, einem Haupttor zu jenem "Erhabenen Heiligtum" der Moslems, dem Haram al Scharif, von den Juden als Tempelberg verehrt. An der Seite dieses Eingangs befindet sich eine Einsatzzentrale der israelischen Grenzpolizei. Bab el Silsileh bot insofern ihren Truppen eine besonders günstige Position, um während des Freitagsgebets das Areal zu stürmen. Mussa war bei den blutigen Auseinandersetzungen nicht nur ein kindlicher Augenzeuge. Er habe auch selbst einen Stein gegen die Israelis erhoben, behauptet er stolz. Denn - das habe ihn der Großvater gelehrt - man müsse allein Gott fürchten, nicht aber die israelischen Besatzer. Um ein wenig Eindruck zu schinden, gesellt er sich am Tag danach neben die Journalisten, die diesen Konfliktpunkt inspizieren. "Guckt", sagt er und weist auf die Maschinengewehre der dort Wache stehenden Sondereinheit. "Das sind die Waffen, die aus unseren Leuten Märtyrer machen." Einer dieser Märtyrer ist Ossam Dschadde. Jetzt schmückt ein fotokopiertes Flugblatt mit seinem Bild, das einen kraushaarigen, schüchtern lächelnden palästinensischen Teenager als "palästinensischen Helden" ausweist, vielfach die Hauswände der Altstadt. Sein Tod hat ihm diese Prominenz eingebracht. Unermüdlich ziehen die Respektablen aus den Ost-Jerusalemer Familien zum Trauerhaus in der Ala Udin-Straße. Eine von den zahlreichen Adressen, an denen palästinensische Solidarität einen Kondolenzbesuch gebietet. Und zu befürchten ist, dass es noch mehr werden. Das Mekasset-Hospital auf dem Ölberg meldet die Einlieferung von Schwerstverletzten, die in Kopf und Oberkörper von Dum-Dum-Geschossen oder Gummi ummantelten Stahlkugeln getroffen wurden. Das Feuer der Unruhen ist am Wochenende auf fast die gesamte Westbank und den Gaza-Streifen übergesprungen. Die Zahlen getöteter Palästinenser sind längst in den zweistelligen Bereich geklettert. Ein Dutzend wurde allein am Sonntag zu Grabe getragen. "Man kann nicht erwarten, dass die Leute dabei ruhiges Blut bewahren", sagt Ziyad Abu Ziyad, der für Jerusalem zuständige Minister der Autonomie-Regierung. In der Nacht hat es zwar intensive Kontakte zwischen israelischen und palästinensischen Sicherheitsbehörden gegeben. Auch griffen Premier Ehud Barak und Autonomiechef Yassir Arafat persönlich zum Telefon, um sich über die brisante Lage zu verständigen. Vor allem aber sollen während dieses Telefonats gegenseitige Vorwürfe ausgetauscht worden sein. Wieder einmal schieben beide Seiten der jeweils anderen die Hauptschuld an der Eskalation der Gewalt zu. Hätten die Israelis die Arroganz ihrer militärischen Übermacht zurückgestellt und stattdessen die Verhältnismäßigkeit der Mittel gewahrt, um dem Zorn der Straße zu begegnen, wäre es niemals so weit gekommen, besagt die palästinensische Version. Würde Arafat mit seiner ganzen Autorität intervenieren und seinen Truppen unmissverständlich den Befehl erteilen, steinewerfende Demonstranten zurückzudrängen, ließe sich die Situation befrieden, lautet entsprechend die israelische. Nur, auf Knopfdruck lässt sich der überkochende Dampfkessel nicht abstellen. "Es braucht Zeit", so Abu Ziyad, "um die Sache abzukühlen." Doch Aufheizer gibt es auf beiden Seiten. Vor allem im Gaza-Streifen greifen palästinensische Polizisten zu scharfen Waffen, um sich nahe der isolierten jüdischen Siedlung Netzarim Schusswechsel mit israelischen Soldaten zu liefern. Die Gefahr einer "Libanonisierung in Gaza", ist damit weiter gewachsen. Erst kürzlich haben Armee-Repräsentanten davor gewarnt, in Anspielung auf den früheren Guerilla-Krieg mit der Hisbollah in der damaligen südlibanesischen "Sicherheitszone". Auch Ariel Scharon, ein verbaler Brandstifter in der Rolle des Biedermannes, zündelt weiter. So trat Israels rechter Oppositionschef am Samstagabend im Fernsehen auf, um erneut seinen Standpunkt kundzutun, dass er "wahrlich keine Erlaubnis der Palästinenser" benötige, um irgendeinen Ort in ganz Jerusalem, der "auf ewig vereinten jüdischen Hauptstadt", aufzusuchen. Selbstgerechte Worte eines Hardliners, der mit seiner provokativen Inspektion des Tempelbergs überhaupt erst den Stein des Anstoßes lieferte. "Scharon liebt es, Blut zu sehen", erregt sich Hassan el-Ansari, Besitzer eines Souvenirladens in der Via Dolorosa der Jerusalemer Altstadt. "Der will uns unsere Moschee nehmen, aber wir werden das nicht zulassen. Eher bin ich bereit zu sterben, und wie ich denken viele hier." Als palästinensische Volkesstimme darf el-Ansari tatsächlich als repräsentativ gelten. Auch mit der Äußerung, dass es mit seinem Glauben in den Friedensprozess vorbei sei, nachdem sich erwiesen habe, dass "faule Kompromisse" scheitern müssten. "Einen Frieden, wie er sein sollte, bringen sie jedenfalls nicht." Da spiegelt sich auch der Argwohn gegen die Unterhändler wider, den komplizierten Konflikt um Jerusalem symbolisch lösen zu wollen. Besonders misstrauisch wird der intellektuelle Versuch beäugt, den Streit um das zentrale Objekt der Begierde - den Haram al-Scharif, respektive den Tempelberg - per Definition zu entschärfen, in dem die Souveränität über dieses Heiligtum mal vertikal geteilt, mal Gottes Händen oder ersatzweise dem UN-Sicherheitsrat anvertraut werden soll. Insofern hat Ariel Scharon gewissermaßen Arafat einen Dienst erwiesen. Beweist doch der Aufruhr in den palästinensischen Gebieten aller Welt, wie unabdingbar das Herz der Moslems an dieser nach Mekka und Medina drittheiligsten Stätte im Islam hängt. "Politisch motiviert", betont dennoch Arafats Jerusalem-Beauftragter, "sind die Proteste von unserer Seite aus nicht." Eher schon seien sie Ausdruck "verletzter, religiöser Gefühle". Auch den israelischen Vorwurf, dass der massive Polizeieinsatz während des Freitagsgebets erst erfolgt sei, nachdem drei Steine vom Haram al-Scharif auf den Platz vor der jüdischen Klagemauer geflogen wären, lässt Abu Ziyad nicht gelten. "Das ist eine dicke Lüge, eine Entschuldigung." Schließlich sei binnen Minuten ein konzertierter Vorstoß der israelischen Truppen erfolgt. Das, so der Autonomiepolitiker, "war keine Reaktion, sondern pure Aktion". Nach seiner Überzeugung wollte Premierminister Ehud Barak auf diese Weise nach dem Scharon-Debakel eigene Stärke demonstrieren, um in der inner-israelischen Debatte zu zeigen, wie sehr er die Oberhand hat. Wie auch immer, am vierten Tag der Straßenkämpfe, die schlimmste Erinnerungen an die Zeiten der Intifada wachgerufen haben, lautet die vorrangige Frage nicht mehr: wer angefangen hat, sondern wie die Spirale der Gewalt zu stoppen ist. Denn diese Spirale zieht immer weitere Kreise, erreicht gar die Dörfer und Städte der arabischen Minderheit im israelischen Kernland, die es ihren "Brüdern und Schwestern" aus dem Arafat-Land nachtun und ihren ebenfalls ausgerufenen Generalstreik mit brennenden Reifen in Szene setzen. Immerhin, die politische Führung in Regierungsverantwortung scheint auf beiden Seiten an Deeskalation interessiert. Selbst der Begriff "Friedensprozess" taucht noch auf, in den offiziellen Erklärungen aus West-Jerusalem und Ramallah. Ganz kaputtmachen lassen will man sich die Chancen auf Wiederaufnahme von Verhandlungen offenbar nicht.
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