taz 2.10.2000 Der mörderische Weg zum Frieden aus Jerusalem SUSANNE KNAUL Der Friedensprozess zwischen Israelis und Palästinensern ertrinkt in Blut - das ist die Schlussfolgerung des palästinensischen Informationsministers Jassir Abed Rabbo aus den Unruhen der vergangenen vier Tage. 26 Tote und über 600 Verletzte in Jerusalem, dem Westjordanland und dem Gaza-Streifen zählten die Behörden. Palästinenser und Israelis schoben sich gegenseitig die Schuld an den Auseinandersetzungen zu. Provoziert wurden sie durch den Besuch des israelischen Oppositionsführers Ariel Scharon auf dem Tempelberg am vergangenen Donnerstag. Seitdem gehen sie unvermindert weiter. Solidaritätskundgebungen, bei denen es teilweise zu Ausschreitungen kam, fanden gestern auch im israelischen Kernland statt. In den Palästinensergebieten wurden die Todesopfer betrauert und bestattet. Einige Demonstranten verglichen Scharon lauthals mit Hitler. Die vielen Opfer bringen zahlreiche Palästinenser erneut dazu, sich mit den Oppositionsgruppen zu solidarisieren. Den Umzügen der islamischen Fundamentalisten schlossen sich tausende Menschen an. "Unser einziger Weg ist der bewaffnete Kampf", meinte am Wochenende Scheich Achmad Jassin, Chef der Hamas im Gaza-Streifen. Der Mord hat einem Kind im Gaza-Streifen sei der Höhepunkt eines wahren "Massakers", kommentierte der arabisch-israelische Knesset-Abgeordnete Achmad Tibi. Entgegen israelischer Berichte, nach denen der Junge versehentlich bei einem Kreuzfeuer ums Leben gekommen sei, spricht das palästinensische Informationsministerium von dem "gezielten Schuss eines Scharfschützen". Tibi forderte den Rücktritt des israelischen Stabschefs Schaul Mofaz, der "seinen Truppen den Kindermord befiehlt". Scharons Provokation Dem Besuch Scharons auf dem Tempelberg war in der Wochenmitte die von Regierungschef Ehud Barak in Aussicht gestellte Lösung zweier Hauptstädte in Jerusalem vorangegangen. Auch mag für den Propagandaauftritt die Schließung der Netanjahu-Akte eine Rolle gespielt haben. Am Mittwoch hatte der israelische Oberstaatsanwalt das Betrugsverfahren gegen den ehemaligen Premierminister eingestellt. Nun droht Scharon erneut Konkurrenz im eigenen Lager. Obschon Netanjahu noch nicht zu einer möglichen Kandidatur Stellung bezogen hat, läuft bereits die Kampagne seiner Befürworter, die meinen, dass nur mit ihm als Parteichef Barak bei möglichen Neuwahlen abzulösen sei. Die Frage einer Lösung für Jerusalem und vor allem der Kontrolle des Tempelberges wird im Wahlkampf eine zentrale Rolle einnehmen. Die jüngsten Entwicklungen kommen der Opposition zugute, die nun argumentieren kann, dass Premierminister Ehud Barak mit seiner Friedenspolitik scheiterte. Die israelische Regierung spricht unterdessen von einem doppelten Spiel, das Palästinenserpräsident Jassir Arafat spielt, wenn er auf der einen Seite die Straße aufhetzt, auf der anderen von Kooperation und Beruhigung der Lage spricht. Umgekehrt meinen die Palästinenser, dass es gerade die Israelis seien, die "mit Terror erreichen wollen, was die Verhandlungen nicht bringen konnten", so Siad Abu-Siad, der palästinensische Minister für Jerusalem-Angelegenheiten. Mit den Unruhen sei einmal mehr klar, dass "die Palästinenser niemals einem Kompromiss über die heiligsten Stätten zulassen werden". Unruhen als Verhandlungsmasse Zweifellos werden die Auseinandersetzungen von den Palästinensern funktionalisiert. Mehr Zugeständnisse seien erforderlich, die israelische Seite müsse einsehen, dass es ohne die Übergabe von Ostjerusalem keinen Frieden geben werde, lautet das palästinensische Resümee mit Blick auf eine Fortsetzung der Verhandlungen. Demgegenüber will Barak "nicht dulden, dass die Unruhen als Mittel im Friedensprozess benutzt werden". Aus Regierungskreisen und in der israelischen Linken war der Besuch Scharons auf dem Tempelberg von Beginn an als unsinnig und dumm kommentiert worden. Dennoch treffen die jüngsten Auseinandersetzungen vor allem Barak - und das nicht nur auf innenpolitischer Ebene. Auch das Ausland wird die Bilder des sterbenden Jungen nicht unberührt lassen. Ähnlich wie zu Beginn der Intifada, als die internationalen Medien zeigten, wie israelische Soldaten jungen Palästinensern die Knochen brachen, wird der Tod des kleinen Rami schwere Folgen für das israelische Ansehen nach sich ziehen. Möglich ist verstärkter Druck auch aus Europa, in der Jerusalem-Frage kompromissbereiter zu sein. Israel wird jedoch gerade in Zeiten gewaltsamer Auseinandersetzungen nicht nachgeben. Eine Lösung rückt damit in weitere Entfernung. Obschon beide Seiten es niemals wollten, scheint der Vorschlag aus den Reihen der israelischen Regierung, die Behandlung der Jerusalem-Frage für einige Jahre zu verschieben, derzeit der einzig denkbare Weg.
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