Süddeutsche Zeitung, 4.10.2000 Der Präsident, der zu sehr Onkel war Süleyman Demirel, früherer Staatschef der Türkei, machte sich offenbar für seinen betrügenden Neffen stark Gemeinhin regt sich in der Türkei kaum jemand über Skandale auf - so sehr scheinen sie die Regel und nicht die Ausnahme zu sein. Doch die neuesten Enthüllungen könnten von größerem Kaliber sein als die üblichen Betrügereien von Geschäftsleuten und Politikern. Zum ersten Mal ist die Familie des ehemaligen Staatspräsidenten Süleyman Demirel ins Visier der Ermittler geraten - und damit auch der Patriarch selbst, der vier Jahrzehnte lang türkische Politik bestimmt hat. Im Mittelpunkt der Affäre steht Yahya Murat Demirel, der mit 33 Jahren noch sehr junge Neffe des 76-jährigen Alt-Politikers. Er soll als Besitzer einer Privatbank Einlagen seiner Kunden veruntreut und auf ein Konto in New York verschoben haben. Die Rede ist von mindestens 45 Millionen Dollar, aber es könnte auch mehr sein. Mittlerweile hat das berüchtigte Staatssicherheitsgericht Nummer eins in Ankara den Fall an sich gezogen. Hier werden normalerweise Kapitalverbrechen gegen den Staat verhandelt. Wie andere türkische Privatbanker schien Demirel junior einen Spruch Bertolt Brechts zu beherzigen, der meinte, dass nur Dilettanten eine Bank ausrauben, derweil wahre Meister ein eigenes Geldinstitut gründen. Murat Demirels "Egebank" lockte mit Zinsen ab zehn Prozent und begann dann, so der Vorwurf, die reichlich hereinströmenden Einlagen abzuräumen und über Nord-Cypern und die Virgin Islands in die USA zu leiten. Ein echtes Risiko ging er damit nicht ein - selbst nicht im Fall eines Bankenkrachs. Denn nach damals geltendem Recht übernahm der Staat die Schulden eines bankrotten Geldinstitutes und verpflichtete sich, die Einleger zu entschädigen - wenn auch nicht sofort und nicht in vollem Umfang. Nicht wenige türkische Vermögen der vergangenen Jahre wurden auf diese halbseidene Art erworben. Für Murat Demirels Bank war das Ende am 22. Dezember 1999 gekommen, als die Regierung in Ankara - wohl auch unter Druck des Internationalen Währungsfonds - die "Egebank" und vier weitere Banken unter staatliche Aufsicht stellte. Weil dazu alle Guthaben eingefroren werden sollten, war höchste Geheimhaltung notwendig. Noch nicht einmal das Kabinett war von dem Dekret unterrichtet. Außer Regierungschef Bülent Ecevit und wenigen Eingeweihten wusste nur noch - und hier wird die Sache spannend - Staatspräsident Demirel Bescheid, der die Vorlage gegenzeichnen musste. Einer dieser Mitwisser aber muss Murat über den drohenden Zugriff des Staates informiert haben. Denn nur zwei Stunden nachdem Onkel Demirel im Präsidentenpalast das Dekret gesehen hatte, eilte der Neffe mit acht leitenden Angestellten zur "Egebank"-Zentrale und schleppte "säckeweise" - so die türkische Presse - Bargeld heraus. Für den Bankraub durch den Bankenchef gibt es Beweise: Murat Demirel hatte vergessen, die Überwachungskameras auszuschalten. Noch hat niemand den Ex-Staatschef direkt bezichtigt, seinem Verwandten den Tipp gegeben zu haben. Aber angesichts des mittlerweile bekannt gewordenen Tathergangs bleibt wenig Platz für Spekulationen. Außerdem wurde inzwischen ein Brief Süleyman Demirels an den aserbaidschanischen Staatschef Haidar Alijew bekannt. Darin bat der Türke seinen "lieben Bruder" Alijew, dem "ehrenwerten Geschäftsmann" Murat Demirel bei dessen Expansion in Aserbaidschan nicht seine "Nähe und Unterstützung zu versagen". Wolfgang Koydl
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