Badische Zeitung, 05.10.2000 Das 2000 Jahre alte Dorf Halfeti geht in einem riesigen Stausee unter und mit ihm wertvolle Denkmäler der Kulturgeschichte Das Ende eines Paradiesgartens Von unserem Korrespondenten Jürgen Gottschlich Es gibt Mythen, die bis in die Frühzeit der Menschheitsgeschichte zurückreichen. Dazu gehört der Glaube an ein Paradies, einen Ort, der Sicherheit bietet und durch Früchte in Hülle und Fülle die Mühen des täglichen Überlebenskampfes überflüssig macht. Ein solcher Ort liegt versteckt, ist grün, hat viel Wasser und ein angenehmes Klima. Wer sich im Südosten der Türkei die Mühe macht, die Hauptstraße entlang der syrischen Grenze zu verlassen und kurz nach Birecik auf einer kleinen, kurvenreichen Straße 40 Kilometer nach Norden fährt, kann den Mythos Wirklichkeit werden sehen. Von einem kahlen Höhenzug sieht man plötzlich tief in ein Tal hinunter. Das Tal ist grün, voller Pistazien, Aprikosen und Pfirsichbäumen. Während oben ein heißer Wind über das Hochplateau fegt, herrscht unten eine angenehme Temperatur. Entstanden ist dieser Ort durch einen Fluss, den Oberlauf des großen Euphrat, der sich in tausenden von Jahren in den Kalkstein gegraben hat und so das Paradies schuf. Schon vor mehr als 2000 Jahren haben Menschen hier gelebt und die meisten Häuser, die jetzt im Tal, in einer Biegung des Euphrat stehen, sind mehr als hundert Jahre alt. Der Ort heißt Halfeti. Bald wird Halfeti ins Reich der Mythen und Legenden verschwunden sein. Seit Ende Mai steigt der Euphrat jeden Tag weiter an, Tag für Tag verschwindet ein Teil des grünen Tales und ein Teil von Halfeti. Durch den Bau eines Staudammes rund 30 Kilometer weiter den Euphrat herunter läuft das Tal, das der Fluss in den Fels gegraben hat, langsam voll. Wenn der Staudamm endgültig aufgefüllt ist, stehen in Halfeti nur noch die am höchsten gelegenen Häuser oberhalb der Wasserlinie. Der größte Teil der üppigen, grünen Gärten wird verschwunden sein. Betroffen davon ist auch eine uralte Burg, Rumkale, einst von den Assyrern gebaut, später von armenischen Christen besetzt. Hier, so eine der vielen Legenden, soll der Evangelist Johannes ein Teil seiner Jesus-Geschichte geschrieben haben. Bis zu Beginn das vorigen Jahrhunderts war Halfeti ein überwiegend armenisch-christlich besiedelter Ort. Das änderte sich erst mit der Vertreibung und Ermordung der Armenier während des Ersten Weltkrieges. Für Vokas Anac, einen weißhaarigen Patriarchen um die 70, der kaum noch Zähne im Mund aber dafür noch einen erstaunlichen festen Händedruck hat, versinkt langsam sein Lebenswerk. Er hatte entlang des Flusses einen großen Garten mit Obst und Nussbäumen, bester Boden und sehr ertragreich. Mitten darin, direkt am Wasser, war ein schöner Teegarten. Beides ist weg, in den Fluten versunken. 4,5 Milliarden Lira, knapp 15'000 Mark Entschädigung, hat er dafür bekommen. Vokas Anac gehört zu den wenigen, die auf diese kümmerliche staatliche Erstattung nicht unbedingt angewiesen sind. Er hat noch zwei Häuser, die von dem Wasser verschont bleiben werden und Kinder in Deutschland, die Geld schicken. Andere haben um ihre Entschädigungen kämpfen müssen und zuletzt verbittert aufgegeben. "Mein Land und mein Haus", erzählt ein Nachbar von Anac, "wurden 1997 taxiert und ein Preis festgesetzt. Das Geld soll ich jetzt, drei Jahre später bekommen. Bei einer jährlichen Inflation von 70 Prozent ist es fast nichts mehr wert." Einige haben gegen diese offensichtliche Ungerechtigkeit geklagt und auch gewonnen. "Doch der Prozess dauert ebenfalls zwei Jahre, dadurch wird das Geld auch nicht mehr." Auch die Ersatzhäuser, die die Bewohner von Halfeti vom Staat angeboten bekommen haben, lässt die meisten daran denken, gleich ganz zu verschwinden und in die Stadt nach Urfa oder Gaziantep zu ziehen. Oben auf der kargen Hochebene, in einer genormten Reihenhaussiedlung ohne Gärten, ja ohne jeden Baum und Strauch, der Sonne und dem Wind schutzlos ausgeliefert, fristen nur einige wenige frühere Bewohner Halfetis nun ein tristes Dasein. Eine moderne Variante der Vertreibung aus dem Paradies. "Bei einem Staudamm gewinnen immer neunundvierzig und einer verliert", meint Mehmet Acikgöz, ein Mitarbeiter des regionalen GAP-Büros in Urfa, achselzuckend. GAP ist das Kürzel für Südost-Anatolien-Projekt, das größte Infrastrukturprojekt der Türkei, mit dem vor 30 Jahren begonnen wurde und das nun langsam seiner Vollendung zugeht. Damals hat die türkische Regierung als großes nationales Projekt beschlossen, das Wasser des Euphrat und Tigris durch eine Kaskade von 21 Staudämmen zur Stromgewinnung und Bewässerung großer landwirtschaftlicher Flächen extensiv zu nutzen, um so diesen schon in der menschlichen Frühgeschichte bewirtschafteten Teil Mesopotamiens wieder grün zu machen. Der im Mai fertiggestellt Birecik-Damm, in dessen Wasser Halfeti versinkt, ist Teil dieses Programms. Wie Halfeti sind in den vergangenen 20 Jahren, seit die ersten Dämme errichtet wurden, hunderte von Dörfern verschwunden und tausende von Bauernfamilien umgesiedelt worden. Das sind jedoch nur ein Teil der Probleme die durch GAP entstanden sind. Durch den Bau der Staudämme hat sich die Türkei einen erbitterten Konflikt mit Syrien und, in abgeschwächter Form, auch mit dem Irak eingehandelt, die beide an den Unterläufen der Flüsse liegen und befürchten, dass zukünftig viel weniger von dem kostbaren Nass noch bei ihnen ankommt. Doch erstaunlich genug: GAP ist, trotz aller Probleme, trotz Militärputsch und ständig wechselnden Regierungen, das einzige ökonomisch-politische Projekt, das in der Türkei mehr als dreißig Jahre kontinuierlich weiter verfolgt wurde. Aus guten Grund, denn mit GAP werden gleich drei wichtige Ziele verfolgt: Die strategische Kontrolle über das Wasser der beiden größten Flüsse des Landes, die Produktion dringend notwendiger Energie durch die Wasserkraftwerke und mit der Bewässerung großer Flächen soll der arme, unterentwickelte, überwiegend kurdische besiedelte Südosten des Landes, endlich Anschluss an den Westen bekommen. Angesichts solcher Pläne werden Kulturdenkmäler der Menschheitsgeschichte zu einer relativen Größe, nicht nur in Halfeti. Was am Euphrat bereits passiert ist, steht Hasankeyf am Tigris in den kommenden Jahren bevor. Seit wann es in Hasankeyf menschliche Siedlungen gibt, ist unter Archäologen umstritten, sicher jedoch ist, dass es bereits mehrere tausend Jahre sind. Hasankeyf, das ist ein Felsen mit einer Burg und ausgedehnten mittelalterlichen Wohnanlagen, die hoch über den Tigris hinausragen und an dessen Fuß eine Furt durch den Fluss führt. In den Felsen entlang des Flussufers gibt es zahlreiche Höhlen, die seit der Frühzeit als Behausungen dienten. Durch die Furt am Tigris war Hasankeyf schon in der Antike ein Handelsplatz und Knotenpunkt auf dem Weg von Kleinasien nach Persien und weiter nach Indien. Hasankeyf verbirgt Zeugnisse assyrischer, römischer, byzantinischer, türkischer und kurdischer Kultur. Zu Beginn des ersten Jahrtausends war die Stadt Hauptsitz der türkischen Artukiden-Dynastie, eine wertvolle Hinterlassenschaft in der Geschichte der türkischen Besiedlung Kleinasiens. Das moderne Hasankeyf ist dagegen ein recht heruntergekommener Ort, dessen Höhepunkt die in den Tigris gebauten Fischrestaurants bilden. "Seit 1980 die Entscheidung fiel, den Ilisu-Staudamm zu bauen, ist hier keine müde Lira mehr investiert worden", erzählt Vahap Kusen, Bürgermeister des Ortes. "Die Leute hier gehören zu den Ärmsten der Gegend. Doch Hasankeyf ist so reich an Geschichte, dass es einfach nicht untergehen darf." Seit die Überflutung der römischen Siedlung Zeugma in der Nähe von Halfeti in diesem Jahr international für Wirbel sorgte, wächst in Hasankeyf die Hoffnung, dass ihr Ort vielleicht doch gerettet werden könnte. "Die Aufmerksamkeit für Hasankeyf im Ausland ist größer geworden, vielleicht kommt es zu einem Kompromiss", hofft Bürgermeister Kusen. Tatsächlich fällt die Entscheidung über das Schicksal von Hasankeyf nicht nur in Ankara. Der Ilisu-Damm soll von einem Konsortium europäischer Firmen unter Führung eines Schweizer Unternehmens gebaut und finanziert werden. Die Firmen sollen dann über einen zuvor festgelegten Zeitraum den Strom, der am Ilisu-Damm produziert wird, verkaufen. Sie hoffen, dadurch nicht nur die Baukosten hereinzubekommen, sondern auch Gewinne zu erzielen. Da diese Finanzierung aber mit staatlichen Bürgschaften in der Schweiz, Deutschland und England abgesichert werden muss, ist die öffentliche Meinung in Europa nicht ohne Bedeutung. Entsprechend argwöhnisch werden ausländische Besucher von den Sicherheitsorganen beobachtet. Journalisten werden schon mal von der Zivilpolizei aus der Kreisstadt Batman bis ins Vorzimmer des Bürgermeisters begleitet und zwei englischen Parlamentsabgeordneten nahm die Geheimpolizei bei einem Besuch in Hasankeyf sogar ihre Pässe ab. Doch auch in der Türkei gibt es bereits eine überregionale Bürgerinitiative, die unter dem Motto: "Hasankeyf darf nicht sterben", für Aufmerksamkeit sorgt. Denn in unserer Zeit überleben eben auch Paradiese nur, wenn sie die richtige Lobby haben.
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