Neue Zürcher Zeitung (CH), 05.10.2000 Abflauen der Gewalttätigkeiten in Israel Kritik am harten Vorgehen der Sicherheitskräfte Am Mittwoch ist in Israel und in den palästinensischen Gebieten wieder weitgehend Ruhe eingekehrt. Israels Sicherheitskräfte wurden von israelischen Palästinensern wegen ihres harten Vorgehens kritisiert. Im Gazastreifen ertönte der Ruf nach Rache. gsz. Jerusalem, 4. Oktober In der palästinensischen Stadt Jaffa, die völlig von Tel Aviv umschlossen ist, sind am Mittwochabend erneut Unruhen ausgebrochen. Journalisten wurden tätlich angegriffen. Die Kamera eines italienischen Fernsehteams wurde von Demonstranten zerschlagen. Bürger von Yafo erklärten laut israelischen Medienberichten, dass es sich bei den Unruhestiftern um Elemente von aussen, wahrscheinlich um Palästinenser aus den besetzten und autonomen Gebieten, gehandelt habe. Der Höhepunkt der Demonstrationen arabischer Israeli scheint überschritten. Am Mittwoch herrschte sonst grösstenteils wieder Ruhe. Auch in Cisjordanien und dem Gazastreifen wurde die Waffenruhe am Mittwoch grösstenteils beachtet, obwohl es wiederum zu teilweise heftigen Auseinandersetzungen kam. Bei der Siedlung Netzarim im Gazastreifen, die auch am Mittwoch von der Aussenwelt abgeschnitten blieb und aus der Luft versorgt werden musste, und an mehreren Stellen in Cisjordanien kam es erneut zu Gewalttätigkeiten, zum Teil sogar mit scharfer Munition. Die Atmosphäre ist gespannt und könnte laut Beobachtern beim kleinsten Zwischenfall zu einem Wiederaufflammen der Zusammenstösse führen. Erschreckende Bilanz In Israel beginnen sich alle Seiten die Wunden zu lecken. Zehn Tote unter den arabischen Israeli ist die schmerzliche Bilanz der Unruhen, die sich während der vergangenen Tage innerhalb der israelischen Grenzen abspielten. Arabische Knessetabgeordnete und Bürgermeister werfen der Polizei vor, mit präzedenzloser Brutalität gegen die Demonstranten vorgegangen zu sein. Nie hatten Beamte von scharfer Munition Gebrauch gemacht, so behaupten Sprecher der arabischen Minderheit in Israel, wenn zum Beispiel orthodoxe Juden oder Vertreter anderer Interessengruppen manifestierten. Dem hält die Polizei entgegen, dass die Demonstrationen noch nie da gewesene Ausmasse angenommen hätten. Auch scharfe Munition sei gegen die Ordnungsmacht eingesetzt worden. Der Minister für innere Sicherheit, Ben-Ami, präzisiert, dass es sich bei den Tumulten der letzten Tage nicht um gewöhnliche Demonstrationen, sondern um einen Volksaufstand gehandelt habe. Es werde für beide Seiten schwierig sein, das Trauma zu überwinden. Allerdings lässt die Anweisung zur Mässigung von Ministerpräsident Barak an die Polizei darauf schliessen, dass die Sicherheitsbeamten tatsächlich weit schärfer vorgegangen sind, als nötig gewesen wäre. Ein Fernsehbericht zeigte am Dienstagabend, wie drei unbewaffnete Mädchen von Polizisten mit Fusstritten traktiert wurden. Die Zerstörungen, welche die Demonstranten in den palästinensischen Ortschaften im Norden Israels verursachten, gemahnen an Folgen eines Wirbelsturms. Hochspannungsmasten, Ampeln und Kandelaber liegen am Boden, ausgebrannte Fahrzeuge säumen die Strassen, die mit Steinen und Wurfgeschossen überstreut sind. Der Asphalt ist an vielen Stellen durch brennende Reifen zerstört worden. Mehrere Fabriken wurden angezündet und brannten aus. Eine Fläche von etwa acht Quadratkilometern Wald wurde vermutlich infolge von Brandstiftung zerstört. Der Volkszorn, der in der Zerstörungswut seinen Ausdruck fand, ist zum Teil auf eine Identifizierung mit den Bewohnern in den palästinensischen Gebieten jenseits der grünen Linie zurückzuführen. Die Wut ist aber auch eine Reaktion auf die jahrzehntelange Vernachlässigung der arabischen Ortschaften durch israelische Regierungen. |