Die Presse (A), 6.10.2000 Konflikte um Aufbau der EU-Krisentruppe Frankreich fordert mehr Unabhängigkeit vom Atlantikpakt. Auch die Türkei blockiert die Zusammenarbeit Nato - EU. VON WOLFGANG BÖHM WIEN/BRÜSSEL. Der Zeitplan ist ehrgeizig: Bis 20. November müssen alle EU-Mitgliedsstaaten bekanntgeben, wieviel sie an Kapazität für die geplante europäische Krisentruppe bereitstellen. Beim EU-Gipfel in Nizza am 7. und 8. Dezember soll die Entscheidung über die institutionelle Struktur fallen. Schon für das Jahr 2001 fordert die französische EU-Präsidentschaft erste gemeinsame Militärübungen. Ab 2003 soll die Truppe mit rund 80.000 Mann zum Einsatz bereitstehen. Während in Brüssel ein eigens eingerichteter sicherheitspolitischer Ausschuß in emsiger Arbeit versucht, in diesem engen Zeitrahmen die vielen Puzzlesteine zu einer multilateralen Truppe zusammenzustellen, sind erste Störfeuer aufgetaucht. Die einstige Begeisterung, mit der von den EU-Mitgliedsstaaten begonnen wurde, eine Truppe aufzustellen, die künftig Krisenherde wie den Kosovo durch rein europäische Anstrengungen befrieden soll, ist einem Machtspiel gewichen. Einige Länder wollen den Aufbau der Truppe nutzen, um ihre sicherheitspolitischen Interessen in ganz Europa durchzusetzen. So setzt Großbritannien nach wie vor auf eine enge Kooperation mit der Nato. Frankreich will hingegen die Unabhängigkeit von der Nato stärken. So ist etwa bis heute nicht geklärt, wie viel Kapazitäten von der Nato im Krisenfall beigesteuert werden. Die EU-Staaten haben ein Defizit bei Lufttransporten und bei der Aufklärung. Paris mit seiner traditionellen Skepsis gegenüber der Nato würde gerne sehen, daß die gemeinsame europäische Truppe weitgehend selbständig agieren kann und fordert deshalb Investitionen in eigene EU-Kapazitäten. Dieses Modell birgt allerdings gleich in zweierlei Hinsicht Zündstoff: Zum einen würde dies Großbritannien und letztlich auch die USA vor den Kopf stoßen. Das Pentagon hatte von Beginn an die europäischen Bestrebungen zu eigenständigen Aktionen mit Besorgnis verfolgt, ließ sich aber durch Garantien einer fortgesetzten engen Kooperation beruhigen. Zum anderen wären rein europäische Strukturen und Kapazitäten auch ein finanzielles Problem. Bisher stand weitgehend fest, daß jeder Staat für die von ihm bereitgestellten Kapazitäten auch finanziell aufkommt. Wird mehr Selbständigkeit verlangt, müßte nicht nur mehr Geld in den Aufbau der institutionellen Struktur (Planungseinheit, Analyse, Aufklärung etc.) fließen, sondern auch in die technische Ausrüstung. Dafür wäre ein gutdotiertes gemeinsames Budget notwendig. Der Koordinator der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana, hat bereits in einem Schreiben an die EU-Regierungen erste Vorschläge zur Finanzierung der Krisentruppe gemacht. In dem geheimen Papier wird die Einrichtung eines eigenen Fonds vorgeschlagen. Solana ist wohl auch aus Gründen der internen Spannungen mit der Kommission dagegen, die Truppe aus dem Gemeinschaftsbudget zu finanzieren. Die EU-Kommission, die gerne mehr Einfluß auf die gemeinsame Außen und Sicherheitspolitik hätte, wäre in diesem Fall in die Finanzgebarung und Kontrolle der Ausgaben eingebunden. Aber nicht nur EU-intern tragen derlei Spannungen zu Problemen beim Aufbau der gemeinsamen militärischen Kapazität bei. Auch von außen wird interveniert. So will die Türkei die derzeit noch bestehende Abhängigkeit der EU von der Nato ausnützen, um ihre Position als Erweiterungskandidat zu stärken. Dem Vernehmen nach blockiert Ankara als Nato-Mitglied derzeit sogar einen Beschluß im Atlantischen Bündnis, der festlegt, welche Mittel der EU für ihre Krisentruppe bereitgestellt werden könnten. DIE EU-KRISENTRUPPE Die gemeinsame Krisentruppe soll aus einem Expeditionskorps von bis zu 80.000 Mann sowie 350 Kampfflugzeugen und 80 Schiffen bestehen. Sie soll für Einsätze von über einem Jahr in bis zu 4000 Kilometer Entfernung gerüstet sein und binnen 60 Tagen mobilisiert werden können. der Beschluß zum Aufbau einer eigenen europäischen Krisentruppe wurde beim EU-Gipfel in Helsinki im Dezember 1999 gefaßt. Österreich hat bereits angekündigt, es werde 2000 Mann bereitstellen. Neben klassischer Infanterie will das Verteidigungsministerium eine Kompanie Pioniere, ein Radpanzer-Bataillon und eine Kompanie Kampfpanzer vom Typ "Leopard" zur Verfügung stellen. Deutschland hat eine Beteiligung von 18.000 Soldaten in Aussicht gestellt. Frankreich hat bisher über seinen eigenen Beitrag noch nicht entschieden. Spanien versprach bereits 6000 Mann, Belgien 3500. Neben den EU-Staaten können sich auch die restlichen europäischen Länder beteiligen. Allerdings will die Union selbst mindestens 60.000, voraussichtlich aber 80.000 Mann aufstellen. Um die geplanten Einsätze in dieser Größenordnung über einen längeren Zeitraum durchführen zu können, müssen wegen der erforderlichen Ablösungen und der Versorgung tatsächlich über 200.000 Mann zur Verfügung stehen. Während die notwendige Truppenstärke voraussichtlich problemlos aufgebracht werden kann, gibt es bei der erforderlichen Ausrüstung noch einige Lücken. Einige EU-Staaten haben deshalb begonnen, beispielsweise in neue Transportflugzeuge zu investieren. |