Badische Zeitung, 6.10.2000 Vor einem dauerhaften Waffenstillstand fordern palästinensische Straßenkämpfer Revanche Israel droht "Tag des Zorns" Von unserer Korrespondentin Inge Günther JERUSALEM. Die Stimmung unter den Palästinensern ist aufgeheizter denn je. Palästinenserführer Arafat profitiert davon: Er gilt wieder als der alte Befreiungskämpfer. Politisch wird ihm die "Al-Aksa-Intifada" wenig nützen: Solange der Status von Jerusalem nicht geklärt wird, hat der Friedensprozess im Nahen Osten keine Chance. Selbst auf einen Befehl von PLO-Chef Yassir Arafat lassen sich die palästinensischen Proteste nicht einfach herunterfahren, ist Ghassan Khatib, ein namhafter Intellektueller aus Ostjerusalem, überzeugt. Ob eine Deeskalation greife, werde sich erst am heutigen Freitag entscheiden, den die Palästinenser zum "Tag des Zorns" erklärt haben. Solange israelische Scharfschützen lasergesteuerte Waffen gegen palästinensische Aufständige richteten, seien die Unruhen nicht zu stoppen: "Die Israelis müssen sich in Zurückhaltung üben", sagt Khatib. Gleichzeitig macht der Direktor des Ostjerusalemer Medienzentrums unter den Straßenkämpfern eine gewisse Revanchelust aus: Auch israelische Soldaten sollten bluten, bevor man "ehrenhalber" in einen Waffenstillstand einwilligen könnte. Die Bilanz der nun einwöchigen "Al-Aksa-Intifada" weist über sechzig Tote auf, fast ausschließlich Palästinenser, lediglich drei Israelis verloren ihr Leben. "Die andere Seite braucht auch Beerdigungen", hat Marwan Barghouti, Anführer der Tansim, des bewaffneten Ablegers der Fatah in der Westbank, in einem Interview zum fortgesetzten Widerstand gegen die Besatzung aufgerufen. Fatah, das ist der von Arafat gegründete Mehrheitsflügel innerhalb der PLO. Dennoch kann dem Autonomiepräsidenten nach Einschätzung Khatibs an einer Fortdauer der Kämpfe nicht gelegen sein. Denn "die bringt die Gefahr mit sich, die Kontrolle wirklich zu verlieren". Bislang besitzt Arafat sie weitgehend noch. Die palästinensische Straße hält sein Bild wieder hoch, nach dem er kürzlich Sympathien wegen seines erneuten Aufschubs eines eigenen Staates einbüßen musste. Auch haben die Proteste das Gefühl der nationalen Einheit gestärkt. Den israelischen Vorwurf, wonach die Unruhen von der langen Hand Arafats geplant worden seien, hält Khatib allerdings für "grundweg falsch". Der Ausbruch der Gewalt sei "spontan erfolgt. "Arafat selbst war überrascht." Dennoch: Die Entwicklung sei für ihn nützlich - um sein Image vom Befreiungskämpfer aufzupolieren und um der Welt den palästinensischen Standpunkt klarzumachen: "Stabilität im Nahen Osten ist ohne Lösung des palästinensischen Problems nicht zu haben." Dass die arabische Welt hinter Arafat steht, zeigen Solidaritätsaktionen, etwa von ägyptischen Studenten, die die israelische Botschaft in Kairo zu stürmen versuchten, die syrischen Demonstrationen in Damaskus sowie ein Streik im jordanischen Amman. Dennoch bezweifelt Khatib, der vor Jahren die ersten palästinensisch-israelischen Dialogversuche mit initiierte, den politischen Gewinn der Al-Aksa-Intifada. Kurzfristig werde "nichts" dabei herauskommen. Die zentrale Hürde bleibe so unüberwindlich wie gehabt: "Eine endgültige Lösung des Jerusalem-Konflikts lässt sich derzeit nicht finden." Die palästinensische Rebellion habe nur den folgenreichen Fehler beider Seiten verdeutlicht, "stur auf einer Alles-oder-nichts-Lösung zu beharren, statt über ein Teilabkommen zu verhandeln". |