Neue Zürcher Zeitung (CH), 07.10.2000 Tag des Zorns» in Jerusalem Angriffe gegen die Klagemauer - Weitere Todesopfer Der von den Palästinensern angekündigte «Tag des Zorns» ist mit Gewalttätigkeiten zu Ende gegangen. Zwei Palästinenser wurden in Jerusalem getötet. Ministerpräsident Barak bat in einem Schreiben an Politiker auf der ganzen Welt, sich für ein schnelles Ende der Gewalttätigkeiten einzusetzen, und kritisierte Arafats Verhalten. gsz. Jerusalem, 6. Oktober Am «Tag des Zorns», der von radikalen Palästinensergruppen für den Freitag angekündigt worden war, haben in Jerusalem schwere Zwischenfällen stattgefunden, in deren Verlauf zwei Palästinenser, unter ihnen ein 13-jähriger Knabe, umsLeben kamen. Palästinenser sprechen von Hunderten von Verletzten, die israelische Polizei meldete zwei Dutzend Verwundete. In den palästinensischen Gebieten sind am gleichen Tag mindestens vier weitere Palästinenser ums Leben gekommen. Kontrollversuche von Arafats Polizei Die Tumulte hielten am Abend immer noch an. Die israelische Regierung befahl der Polizei, sich bei den islamischen Heiligtümern grösste Zurückhaltung aufzuerlegen. Vor und während der Freitagsgebete bei den Moscheen waren an den kritischen Punkten kaum Polizeibeamte zu sehen. Die Zugänge zum «Haram ash-Sharif» wurden von Fatah-Leuten und Beamten des Wakf, der islamischen Verwaltungsbehörde, kontrolliert. Israelische Polizisten liessen sich nirgends blicken. Ein Fatah-Sprecher in Jerusalem erklärte gegenüber dem israelischen Radio: «Der Haram ash-Sharif ist in unserer Hand.» Etwa 20 000 islamische Gläubige fanden sich auf dem Vorplatz vor den Moscheen auf dem Tempelberg ein. Die Teilnahme war relativ gering, da die israelischen Behörden schon in dervorherigen Nacht die Grenzen zu den palästinensischen Gebieten geschlossen hatten. Mit dieser Massnahme sollte die Zufahrt von Palästinensern während des Jom-Kippur-Feiertages, der am Montag stattfindet, gedrosselt werden. Nach dem Ende der Gebete versuchten palästinensische Sicherheitsleute die Demonstranten auf dem Tempelberg zu bändigen, konnten ihrer aber nicht immer Herr werden. Einige von ihnen warfen Steine auf die tiefer gelegene Klagemauer. Da jüdische Gläubige von der Klagemauer evakuiert worden waren, war der Vorplatz zu dem Zeitpunkt jedoch leer, und es kam niemand zu Schaden. Der Wakf versuchte für einmal, mässigendeinzuwirken. Über die Lautsprecher der Moscheen wurden die Gläubigen und die Demonstranten aufgefordert, Ruhe zu bewahren. Beamte drängten die Steinewerfer zurück. Mehrere Jugendliche kletterten jedoch auf eine Mauer, schwenkten Fahnen und begannen Steinbrocken auf den Vorplatz vor die Klagemauer zu schleudern. Als israelische Scharfschützen ihre Waffen auf sie richteten, entfernten sie sich wieder. Bei einem weiteren Zwischenfall warfen palästinensische Demonstranten brennende Tücher und Tränengas in eine Polizeistation, wo sich acht Grenzpolizisten verbarrikadiert hatten; nachdem Manifestanten versucht hatten, die Station zu stürmen,konnten die Grenzpolizisten von zu Hilfe gerufenen Kollegen aus ihrer gefährlichen Lage befreit werden. Die Zusammenstösse waren schon am Abklingen, als sie am Nachmittag in der Altstadt plötzlich wieder aufflammten. Dabei wurden zwei Palästinenser getötet, unter ihnen ein 13-jähriger Knabe. Am Abend stürmte die Polizei unter Einsatz von Plasticmantelgeschossen und Tränengas auf den Tempelberg, wo sich einige hundert Demonstranten verschanzt hatten und Steine gegen Polizisten warfen. Israelische Empörung Mehrere Strassen in Ostjerusalem und die Zugänge in die Altstadt blieben den grössten Teil des Tages gesperrt. Der Beschluss, die Betenden an der Klagemauer zu evakuieren, rief in Israel Bestürzung hervor. Der Likudabgeordnete Rubi Rivlin beschuldigte die Regierung von Ehud Barak, die israelische Souveränität über den Tempelberg aufgegeben und die Sicherung der heiligen Stätten völlig der palästinensischen Polizei überlassen zu haben. Dies sei eine Schande für Israel. Jüdische Besucher der Klagemauer, unter ihnen der Knessetabgeordnete Benny Eilon, drückten ihre Wut darüber aus, dass die islamischen Gläubigen in Ruhe beten durften, während sie ihre Andacht unterbrechen mussten. Aufruf Baraks an internationale Führer Ministerpräsident Barak sandte am Donnerstag einen Brief an hundert führende Politiker auf der ganzen Welt. In dem Schreiben bat er sie, ihren Einfluss geltend zu machen, um ein schnelles Ende der Gewalttätigkeiten herbeizuführen. Barak machte PLO-Führer Arafat persönlich für die Ausschreitungen verantwortlich. Er und die palästinensische Behörde hätten das palästinensische Volk zu den Zusammenstössen aufgehetzt.Israel seinerseits habe sich bei den Zusammenstössen grosse Zurückhaltung auferlegt. Barakversicherte den Adressaten, dass er weiterhin bereit sei, im Interesse des Friedens kalkulierte Risiken auf sich zu nehmen, dass er aber alles Nötigeunternehmen werde, um die Sicherheit der israelischen Bürger und Soldaten zu garantieren. Den Ruf der Palästinenser nach einer internationalen Kommission zur Untersuchung der jüngsten Vorgänge bezeichnete der Ministerpräsident als durchsichtigen Versuch, die Verantwortung von sich zu weisen und schwierigen Entscheidungen auszuweichen.
|