Frankfurter Rundschau, 09.10.2000 Politik soll offensiv für Einwanderung werben Forscher loben Idee der Green Card, rügen aber Ausgestaltung nach "Gastarbeitermodell" / Asylrecht verteidigt Von Pitt von Bebenburg Die deutsche Gesellschaft braucht einen "Grundkonsens" darüber, dass die Bundesrepublik Einwanderung benötigt und sie steuern muss. Das stellen die führenden deutschen Migrationsforscher fest, die für die rot-grüne Politik sowohl Lob als auch Schelte übrig haben. BERLIN, 8. Oktober. Der "Migrationsreport 2000", der am heutigen Montag veröffentlicht wird, beginnt mit einer erfreuten Feststellung: In Deutschland werde erstmals weniger über Eindämmung als über Förderung von Zuwanderung diskutiert. Die Einführung der Green Card sehen die Wissenschaftler, die sich im "Rat für Migration" zusammengefunden haben, als Inbegriff der neuen Stimmung, die sie als "Wende in Sachen Migration und Integration" bezeichnen. Angesichts der Rentendebatte und einer "globalen Konkurrenz um Spitzenkräfte" habe die Politik "die Zeichen der Zeit erkannt", notieren die Herausgeber Klaus Bade und Rainer Münz. Gebraucht werde "eine Einwanderungspolitik im wohlverstandenen Eigeninteresse des Einwanderungslandes Deutschland", so die Wissenschaftler. Dafür müsse politisch geworben werden, denn "Einwanderungspolitik kann man nur mit der einheimischen Mehrheit und nicht gegen sie machen". Es müsse deutlich werden, dass Fremdenfeindlichkeit Deutschland schade: Wenn Einwanderer oder Green-Card-Experten "ihres Lebens nicht sicher sind, nur weil sie vielleicht etwas anders aussehen als unauffällige Deutsche, dann hat die Republik als Einwanderungsland schlechte Karten, auch in der internationalen Konkurrenz um Spitzenkräfte". Zwar sieht die Gruppe, der Historiker und Juristen ebenso wie Politik- und Wirtschaftswissenschaftler angehören, in der Green Card einen wichtigen Anstoß. Andererseits kritisiert sie deren Ausgestaltung als "Rückkehr zum Gastarbeitermodell". Der Vorsitzende des Rates, der Freiburger Politologe Dieter Oberndörfer, meint, Rot-Grün habe "die durch ein Einwanderungsgesetz mögliche Chance zu einer langfristigen sozialverträglichen Gestaltung, Steuerung und Integration der Zuwanderung vertan", zumal "Angebote für unbefristeten Aufenthalt und sichere Einbürgerung vorerst nicht gemacht" worden seien. Scharf geißeln die Forscher Ansinnen, die Förderung von Zuwanderung davon abhängig zu machen, dass das individuelle Asylrecht abgeschafft wird. Solche Forderungen "symbolisieren einen moralischen Skandal der neuen Berliner Republik", schreibt Oberndörfer. Offenbar gebe es den "breiten politischen Konsens" der Bonner Republik nicht mehr, die Pflichten anzuerkennen, die sich aus den Menschenrechtsnormen des Grundgesetzes und der neueren deutschen Geschichte ergeben. Die Demographen Rainer Münz und Ralf Ulrich rechnen damit, dass die Zahl der Menschen, die in Deutschland leben, von heute 82 Millionen bis zum Jahr 2030 auf 77,6 Millionen zurückgeht. Einwanderung hält der Rat deshalb für notwendig, erachtet sie aber nicht als ein Allheilmittel. Da auch die Migranten in die Jahre kämen, könne Zuwanderung den demographischen Alterungsprozess allenfalls bremsen, aber nicht aufhalten. Wichtig sei deshalb, dass wieder mehr Kinder in Deutschland geboren werden. "Soziale und wirtschaftliche Entlastungseffekte", so Oberndörfer, ergäben sich, "wenn die Geburtenrate der alten Bundesländer von derzeit 1,34 auf das Niveau von ca. 1,7, wie derzeit in Frankreich und den nordischen Staaten, angehoben werden könnte".
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