Süddeutsche Zeitung, 09.10.2000 Konflikt im Nahen Osten eskaliert Jerusalem - Die Gewalt im Nahen Osten ist am Wochenende weiter eskaliert. Während die blutigen Unruhen in Gaza und der Westbank erneut Tote und Verletzte forderten, flammten an der südlibanesischen Grenze Kämpfe zwischen der pro-iranischen Hisbollah und der israelischen Armee auf. Am Samstag hatte die Hisbollah drei israelische Soldaten entführt. Israels Premierminister Ehud Barak setzte Palästinenserpräsident Jassir Arafat ein Ultimatum bis Montagabend und drohte mit "schärfstem militärischen Eingreifen". Der UN-Sicherheitsrat verurteilte die "maßlose Gewalt" der israelischen Armee. Barak forderte Arafat in einer Fernsehansprache an die Nation ultimativ auf, die Gewalt in Gaza und der Westbank einzustellen. Sollte am Ende des höchsten jüdischen Feiertags Jom Kippur am heutigen Montagabend keine Änderung der Situation abzusehen sein, werde Israel den Friedensprozess abbrechen und mit geeigneten militärischen Maßnahmen für Ruhe sorgen. Mit dem Ende der Verhandlungen trete für Israel der Verteidigungsfall ein. Arafat lehnte das Ultimatum ab und forderte Israel auf, das "Massaker an unserem Volk" zu stoppen. Bei den seit elf Tagen andauernden Unruhen sind mindestens 90 Menschen getötet und mehr als 2000 verletzt worden, die Mehrheit Palästinenser. US-Präsident Bill Clinton versuchte in mehreren Telefonaten mit Arafat und Barak zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln. Barak rief die Israelis zur Einheit auf. "Wir befinden uns an der Schwelle zu einer neuen Realität", sagte Barak, "es sieht so aus, als hätten wir in Arafat keinen Partner für Frieden." Barak drohte: "Wer uns mit Gewalt zu etwas zwingen will, wird eine gewaltsame Reaktion ernten." Er werde bei einem Scheitern des Friedensprozesses eine Notstandsregierung aus Arbeitspartei, Likud und religiösen Parteien bilden. Panzer in Jerusalem Die israelische Armee verstärkte ihre Präsenz in Gaza und der Westbank und ließ auch in Ost-Jerusalem Panzer auffahren. Israelische Kampfhubschrauber stiegen über der geteilten Westbank-Stadt Hebron auf, nachdem militante Palästinenser zuvor stundenlang die sechs jüdischen Viertel in Hebron beschossen hatten. Barak ließ am Sonntag den internationalen Flughafen in Gaza sperren, nachdem palästinensische Extremisten zuvor einen Bus mit Israelis beschossen und dabei neun israelische Siedler zum Teil schwer verletzt hatten. Soldaten sprengten zudem zwei Gebäude an der Netzarim-Kreuzung im Gazastreifen, die in den letzten Tagen Hauptschauplatz blutiger Zusammenstöße war. Barak forderte die Regierungen in Syrien und im Libanon auf, die drei von Hisbollah-Milizen gekidnappten Soldaten freizulassen. Barak drohte mit "schweren Vergeltungsmaßnahmen". Der stellvertretende Verteidigungsminister Efraim Sneh sagte, Israel sei auch bereit, einen "Zweifrontenkrieg" zu führen, gegen den Libanon und die Palästinenser. Nach Angaben des israelischen Rundfunks setzte sich die US-Regierung mit dem Libanon und Syrien in Verbindung, um die Freilassung der Soldaten zu erreichen. Die radikal-islamische Hisbollah schaltete nach Angaben aus ihr nahe stehenden Kreisen deutsche Unterhändler ein, um einen Gefangenenaustausch mit Israel zu arrangieren. Die Hisbollah verlangt die Freilassung von 19 libanesischen und palästinensischen Inhaftierten aus israelischen Gefängnissen. Die israelische Armee verstärkte ihre Präsenz an der Grenze zum Libanon massiv. Entgegen den Befürchtungen blieb es jedoch im Grenzgebiet nach den Auseinandersetzungen am Samstag zunächst ruhig. Nach Raketen-Angriffen der Hisbollah auf Nord-Israel hatte die israelische Armee am Samstag mit Artillerie zurückgeschossen. Kampfhubschrauber hatten Ziele im Süd-Libanon bombardiert. Dabei wurden nach libanesischen Angaben zwei Menschen getötet und etwa 40 verletzt. Proteste in Deutschland In den Palästinensergebieten und in Israel kam es am Sonntag zu Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Arabern. Die Polizei nahm Dutzende fest, nachdem sie unbeteiligte Palästinenser und israelische Araber attackiert und Häuser und Geschäfte in Brand gesetzt hatten. Im Großraum Tel Aviv wurden bei gewalttätigen Demonstrationen mehr als 40 Personen festgenommen. Nahe der Küstenstadt Haifa erschlug ein arabischer Israeli einen jüdischen Israeli mit einem Stein. In den Palästinensergebieten rief die Autonomiebehörde den Ausnahmezustand aus. In Deutschland protestierten tausende Palästinenser zum Teil gewalttätig gegen Israel. In Essen bewarfen Demonstranten die Synagoge mit Pflastersteinen. Der UN-Sicherheitsrat sprach sich in einer Resolution für eine Untersuchung der Kämpfe aus. Er verurteilte die israelische Provokation vom 28. September, womit der demonstrative Besuch des rechten Oppositionsführers Ariel Scharon am Tempelberg gemeint war, der die Unruhen ausgelöst hatte.
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