Frankfurter Rundschau, 11.10.2000 Hass muss ein hochinfektiöser Virus sein Das israelisch-palästinensische Friedenslager ist zu einer kaum noch wahrnehmbaren Minderheit geschrumpft Von Inge Günther (Jerusalem) Ihr Protest ist einer der leisen Töne, die dazu auf weithin taube Ohren stoßen. Auf einer Insel inmitten der Verkehrsbrandung einer zentralen West-Jerusalemer Kreuzung recken sie ihre selbst gemalten Plakate hoch. "Stoppt die Gewalt" steht darauf, "Krieg ist keine Lösung" und "Rettet den Frieden". Fähnlein einer kleinen Schar Aufrechter, die nicht wenigen Passanten schon ein Dorn im Auge sind. Junge Israeli kurbeln ihre Autofenster runter, um den Demonstranten den in diesen Tagen oft gehörten Schlachtruf "Tod den Arabern" entgegenzuschleudern. Die rücken noch enger zusammen. Ihre Welt steht vor dem Kollaps. Eine Welt, die stets auf einen Flecken der Idylle begrenzt war, aber auch ein praktizierter Traum ist. Die Demonstranten kommen aus Neve Schalom/Wachat Salaam. Dort leben jüdische und palästinensische Israelis gemeinsam. Bewusst haben sie sich dazu entschieden, um zu beweisen, dass eine friedliche Koexistenz möglich ist. Einer von ihnen ist Howard Shippin, ein Mann mit Nickelbrille, der seine Worte bedächtig wählt. Aber jetzt, da eine dümmliche Provokation des rechten Unfriedenstifters Ariel Scharon eine schier unaufhaltsame Kettenreaktion des Hasses ausgelöst hat, fällt auch ihm nur noch eine drastische Lagebeschreibung ein. "Wir befinden uns am Rand des Abgrunds" und das, "nachdem das Friedenslager so große Hoffnungen hatte, dass sich die Politik in die positive Richtung bewegt". Shippin gehört zu der verschwindenden Minderheit der Israelis, die die Schuld daran nicht allein der anderen Seite zuschieben. So enttäuscht er sich auch über den mehrdeutigen Kurs von PLO-Chef Yassir Arafat fühlt, fänden doch die palästinensischen Unruhen "nicht in einem Vakuum" statt. Eine lange Geschichte von aufgestautem Frust und aufgeriebener Geduld stecke dahinter. "Die Idee von Oslo war gut", sagt er: schrittweise Vertrauen aufzubauen, bevor man sich an die ganz schwierigen Konfliktpunkte mache. Nur, "leider ist dieses Grundkapital in den sieben Jahres des Friedensprozesses nie angelegt worden." Auch für Premier Ehud Barak, den er selbst gewählt hat, geht ihm angesichts der Bilder von aufgefahrenen Panzern das Verständnis aus. "Anderswo in der Welt gibt es auch militante Proteste, ohne dass über achtzig Menschen dabei ihr Leben verlieren." Nicht minder schockierend findet der Mittdreißiger die aus allen Landesteilen eintreffenden Nachrichten von jüdischen Israelis, die auf eigene Faust Palästinenser Mores lehren wollen. Im nördlichen Carmiel hat eine außer Rand und Band geratene Menge das arabische Ladenzentrum verwüstet und geplündert. In Nazareth hatten schon einen Tag zuvor jüdische Bewohner aus der Oberstadt einen Rachefeldzug gegen arabische Nazarener angezettelt, zwei Tote mussten am Ende zur ohnehin horrenden Opferbilanz addiert werden. Die Siedler in der Westbank organisieren militante Bürgerwehren, um es aufständischen Palästinensern heimzuzahlen, die gestern gut genug waren, ihnen die Drecksarbeit zu erledigen. Überhaupt scheint sich der Konflikt, der als Al-Aksa-Intifada begann, zu verlagern. Immer neue Herde entzünden sich. So versuchen am Dienstagmorgen drei Palästinenser ihren israelischen Arbeitgeber im jüdischen Kolonieblock Gusch Katif im Gazastreifen niederzustechen. Hass, das muss ein hochinfektiöser Virus sein. Kann man sich in dem Friedensdorf Neve Schalom/Wachat Salaam überhaupt noch vorstellen, dass sich solche gegenseitig zugefügten Wunden wieder heilen lassen? Zumindest die Hoffnung darauf will sich das arabische Mitglied Abdel Salam Najar "niemals" nehmen lassen. "Eines ist gewiss", erwidert er, "unter allen Umständen werden in diesem Land weiterhin Juden und Araber leben." Aber die Frage nach einer politischen Lösung, wie sich das friedlich gestalten lässt, bringt auch ihn derzeit um den Schlaf. "Vor einem Monat", meint er und zeigt unterm Schnauzbart sein traurigstes Lächeln, "habe ich die Antwort noch gewusst." Das war in der jetzt so fern scheinenden Zeit, als Barak und Arafat angeblich nur symbolische Zentimeter von einem Friedensschluss trennten - und als Najar mit anderen Kollegen aus Neve Schalom aufbrach, um Serben und Albanern in Kosovo ihr kooperatives Modell nahe zu bringen. "Klingt heute surreal", gesteht er ein, wo jeder Vernunftbegabte, ob Israeli oder Palästinenser, die Gefahr eines Bürgerkriegs erkennen müsse. Genau die abzuwenden - deshalb sind die Demonstranten auf die Straße gegangen -, erfordere vereinte Anstrengung. Auch Premier Barak, dessen Residenz sich in Sichtweite der winzigen Friedenskundgebung befindet, hat inzwischen Zweifel, dass allein ein Machtwort seitens Arafats reichen könnte, um wieder Ruhe und Ordnung herzustellen. Um zwei, drei Tage will der israelische Regierungschef nach stundenlanger nächtlicher Kabinettsberatung sein Ultimatum ausdehnen. In die Schraubzange sollen die autonomen Gebiete einstweilen vor allem mit ökonomischen Repressalien genommen werden. Die fortgesetzte Abriegelung, die Schließung von Flughafen und der Transitpassage zwischen Gaza und Westbank verstärken zwar die Verbitterung der Palästinenser. Doch die Fristverlängerung bedeutet einen Zeitgewinn für Präsident Arafat, dem die Kontrolle aus den Händen zu gleiten droht. Selbst wenn er an den Verhandlungstisch zurückkehren will, wächst ihm doch interner Widerstand entgegen. Die Basis seines PLO-Mehrheitsflügels Fatah schmiedet eigene Pläne, lässt ein Flugblatt kursieren, in dem nach dem Vorbild der Hisbollah zur Geiselnahme israelischer Soldaten und zu Attacken gegen die Siedlerschaft aufgerufen wird. Nach israelischer Lesart hat sich Arafat die missliche Lage selbst zuzuschreiben. Zum Beispiel, weil er versäumt habe, die militante Tansim-Garde der Fatah zu entwaffnen. Die weit negativere Version besagt, dass Arafat selbst an der "Schaffung einer Kosovo-ähnlichen Situation" gelegen sei, wie der Kommentator Ron Ben Yischai am Dienstag im Massenblatt Yediot Achronoth schrieb. "Die Eskalation der Gewalt dient seinem Interesse." Könne Arafat doch umso lauter nach internationalen Beobachtern rufen, deren Präsenz dann die Ausrufung eines Staats Palästina ermögliche, ohne eine israelische Militärintervention fürchten zu müssen. Eine abenteuerlich anmutende These, sicher. Aber nach den Friedensentwürfen haben die Szenarien der Konfrontation Konjunktur. Das "Fenster der Gelegenheit" zu einer Deeskalation, das UN-Generalsekretär Kofi Annan während seiner Unterredung mit Arafat ausgemacht hat, steht allenfalls noch einen Spalt offen. |