Aachener-Zeitung 11.10.2000 Kommentar: Mehr Mut muss jetzt sein! Im «Fall Calhan» kursiert der Schwarze Peter weiter Es reicht nicht mehr, dagegen zu sein. Wer für Frieden und Freiheit eintritt, muss Zivilcourage zeigen, indem er seinen Mund aufmacht und für Unterdrückte und Verfolgte eintritt. So hat es auch OB Dr. Jürgen Linden jüngst sinngemäß formuliert - anlässlich der AZ-Veranstaltung «Hallo Mensch» auf dem Markt. Hüseyin Calhan wurde an diesem Tag am Bahnhof vom Bundesgrenzschutz festgenommen. Erst mit dem Appell der «Härtefallkommission» zeigte der erste Bürger der Stadt sich prinzipiell bereit, bei seinem Parteifreund, NRW-Innenminister Fritz Behrens, für Calhan einzutreten. Nicht auszuschließen, dass der OB mit Diplomatie und guten Argumenten hinter den politischen Kulissen mehr bewegen könnte als mit polternd-polemischen Verlautbarungen - denn eine unmittelbare Handhabe hat er juristisch gesehen nicht. Linden hätte wenige Wochen nach der Verabschiedung des Aachener Appells dennoch früher persönlich und klar Position für Calhan beziehen und damit ein unmissverständliches Zeichen setzen müssen. Derweil kursiert der Schwarze Peter zwischen Politikern, Behörden und Justiz weiter. Vergessen wir aber nicht: Alle drei «Eckpfeiler der Demokratie» sind letztlich einem Souverän verpflichtet, der meist und gern schlicht als Wahlvolk bezeichnet wird (zu dem ein kurdischer Abschiebehäftling sich freilich nicht zählen darf). Obwohl Politiker aller (!) Ratsfraktionen und der Leiter des Ordnungsamts einmütig für eine vorläufige Duldung eintreten, sind die Behörden in Wesel entschlossen, Calhan seinem ungewissen Schicksal zu überlassen. Ist unser Staat also schizophren? Jedenfalls die Kirche hat diesmal nicht geschwiegen. Zwei «politisch Unverdächtige», Abt Albert Altenähr und Superintendent Hans-Peter Bruckhoff, haben sich mit Nachdruck für Calhan eingesetzt. Bruckhoff kritisierte die Abschiebepraxis mit deutlichen Worten. Das Düsseldorfer Innenministerium macht derweil Druck auf die Behörden, Abschiebungen auch und gerade in Bezug auf kurdische Flüchtlinge umgehend vorzunehmen. Niemand kann ausschließen, dass Calhan (und nicht nur er!) in der Türkei inhaftiert und gefoltert wird. Niemand kann bezweifeln, dass dieser Mensch um sein Leben fürchtet - nur, weil er in Deutschland friedlich gegen die türkische Regierung protestiert hat. Jene, die die Gesetze verabschieden, müssen dafür sorgen, dass sie - nach dem uralten Grundsatz «Im Zweifel für den Angeklagten» - auch angewandt werden. Artikel 16 der Verfassung sagt es - immer noch - eindeutig: «Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.» Matthias Hinrichs |