Frankfurter Rundschau, 11.10.2000 Keine Verbrecher und doch in Haft Zustände in Berlins Abschiebegefängnissen schockieren Grüne Von Pitt von Bebenburg (Berlin) Die Berliner Bündnisgrünen sind entsetzt über die "Leichtfertigkeit", mit der Ausländer in Abschiebehaft genommen würden und manchmal Monate lang bleiben müssten. Viele der Menschen gehörten dort nicht hin, stellten sie nach Besuchen in den Einrichtungen fest. Frau M. ist Ukrainerin und möchte gerne zurückkehren in ihr Land. Trotzdem muss sie bereits seit mehreren Monaten im Berliner Abschiebegefängnis Kruppstraße ausharren. Der Grund: Ihr Pass ist bei der Festnahme abhanden gekommen, und die Ukraine beeilt sich nicht, Papiere für sie auszustellen. Da sitzt die Frau von Mitte 40, ist "fertig mit der Welt und mit den Nerven" und fragt sich, warum sie inhaftiert wurde: "Sie hat ja kein Verbrechen begangen." Die Berliner Grünen-Politikerin Sybill Klotz hat die Schilderungen der Ukrainerin M. und mehrerer anderer Frauen in der Kruppstraße notiert. "Beispielhaft für alle in der Abschiebungshaft befindlichen Frauen" seien die tragischen Geschichten, meint Klotz, die Fraktionschefin ihrer Partei im Berliner Abgeordnetenhaus ist: "All diese Frauen gehören nicht in Haft." Sie bezieht sich auch auf die Vietnamesin V., deren sechsjähriger Sohn deutscher Staatsbürger ist, da er einen deutschen Vater hat. Sie sitzt im Abschiebegefängnis Kruppstraße, während ihr Kind bei Bekannten untergebracht ist. Täglich telefoniert V. mit dem Sohn, der fragt, wann sie wieder heimkommt. Sie weiß es nicht. Die Ausländerinnen leben in der Kruppstraße in dürftigen Verhältnissen. "Acht Frauen in einem Zimmer, eine Sozialarbeiterin für 85 Häftlinge, Gemeinschaftsduschen ohne Vorhänge - und das, obwohl auch die männlichen Bewacher Zutritt haben", schildert Klotz. Die Bedingungen seien "ungleich schlechter als unter ,normalen' Haftbedingungen" - sprich: schlechter als bei Straftätern. Abschiebehaft soll in der Regel kurz sein. Tatsächlich aber, so die Kritik von Klotz und dem Grünen-Abgeordneten Hartwig Berger, sind Fälle von bis zu neun Monaten in Berlin bekannt. "Immer häufiger" seien Herkunftsstaaten für Verzögerungen verantwortlich, so Indien und die Ukraine. Weiter verurteilen die Grünen die Praxis der Justiz, die viel Zeit bis zu Haftprüfungsterminen verstreichen lasse. Wartezeiten von sechs Wochen bis zu sechs Monaten seien die Regel beim zuständigen Amtsgericht Schöneberg, rügte Berger. Die Grünen geißelten besonders, dass auch werdende Mütter und Minderjährige einsitzen müssen. Berger sprach angesichts der Schwangeren von einem "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Die Grünen-Politiker schlagen vor, Abschiebehaft nur "unmittelbar zur Vorbereitung einer Abschiebung" vorzusehen. Bis dahin müsse es erlaubt sein, sich polizeilich anzumelden und privat zu wohnen. Die Kritik an der Abschiebehaft erregt in Berlin besondere Aufmerksamkeit, seit linke Demonstranten am Samstag bei der Anti-NPD-Demonstration versuchten, den Abschiebegewahrsam Grünau zu stürmen. "Ich würde mir wünschen, dass öfter Menschen, wenn auch in friedlicher Absicht, vor die Abschiebehaftanstalten ziehen", kommentierte Berger. Rot-Grün auf Bundesebene hatte in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben, die Dauer der Abschiebehaft zu überprüfen. Der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Dieter Wiefelspütz, nannte das auf Anfrage eine "andauernde Aufgabe". Abschiebehaft sei "eine dunkle Seite unserer Ausländer- und Flüchtlingspolitik, auf die wir aber leider nicht verzichten können". |