Der Landbote (CH), 12.10.2000

KURDEN, PAKISTANER UND PALÄSTINENSER TREIBEN AUF STÜRMISCHER SEE

Flüchtlinge ausgesetzt

Nach tagelanger Odyssee auf dem stürmischen Mittelmeer ist gestern ein türkisches Flüchtlingsschiff mit mindestens 600 Menschen an Bord im kleinen süditalienischen Hafen Otranto angekommen.

SABINE SEEGER-BAIER

ROM. Völlig entkräftet quälten sich die Gestalten über die Gangway. Tagelang hatten sie an Bord der «Diler» ausgeharrt, eines ausgemusterten Frachters, der sie vom türkischen Hafen Izmir nach Italien bringen sollte. Brot und Wasser für die 150 zum Teil schwangeren Frauen, 100 Kinder und 350 Männer waren rationiert und wurden immer knapper, denn das stürmische Mittelmeer machte die Fahrt weit länger und gefährlicher als erwartet. Stundenlang trieb der Seelenverkäufer im Sturm vor der italienischen Küste. Als die Motoren versagten, überliessen die Schiffsführer die «Diler» mit den Kurden, Pakistanern und Palästinensern an Bord ihrem Schicksal. Die «Diler» war am Dienstagabend von der Besatzung eines italienischen Militärflugzeugs gesichtet worden. Wenig später sei von den Passagieren ein SOS-Alarm übermittelt worden. Spezialisten der italienischen Marine übernahmen nach einer dramatischen Aktion das Ruder des Schiffes. Zeitweise versagte der Motor. «Wir hatten Angst um die Menschen», sagte Oberstleutnant Sandro Gallinelli. Sie seien zusammengepfercht gewesen wie Sardinen. «Wenn es einen Schiffbruch gegeben hätte, wären alle verloren gewesen.» Erst nach Stunden konnte sie der italienische Küstenschutz gestern in den kleinen Fischer- und Touristenhafen Otranto in der Südregion Apulien lotsen. Viele waren unterernährt und litten an den Symptomen des Wassermangels. Viele hatten sich im Gedränge und Gestosse an Bord Prellungen zugezogen. «Die Fahrt hat uns im Durchschnitt 2500 Dollar gekostet», berichteten einige der Flüchtlinge, die es nach Krieg und Verfolgung «dahin drängt, wo Frieden ist». Der Zustrom nach Italien will in diesem Jahr auch mit Einsetzen der kühlen Jahreszeit und den Herbststürmen nicht abklingen. Allein in den letzten vier Tagen gingen Hunderte Kurden in Italiens Süden an Land. An den Sandstränden um Brindisi «strandeten» 200 Kurden, auf der Insel Lampedusa, einem europäischen Vorposten vor Nordafrika, in einer Nacht 80. Und bei Triest überquerten 80 Zuwanderer die Grenze.

Gemeinsames Einsatzzentrum Zur Eindämmung des Zustroms hat Innenminister Enzo Bianco zusammen mit seinen griechischen und albanischen Ressortkollegen jetzt die Einrichtung eines Zentrums beschlossen, das vom Hafen Vlore (Albanien) aus den Menschen-, Zigaretten- und Drogenschmuggel bekämpfen soll. «Das Internationale Zentrum gegen illegalen Handel wird kein Studien-, sondern ein operatives Einsatzzentrum», so Bianco. Italien fühlt sich bei der Kontrolle seiner 8000 Kilometer langen Küste schon lange alleingelassen und überfordert. Innenminister Bianco hat deshalb wiederholt eine europäische Polizeieinheit gefordert. Mit Griechenland hat er jetzt ein entsprechendes Abkommen unterzeichnet. Mit Deutschland ist bereits der Austausch von Polizisten vereinbart. «Unsere Ordnungshüter gehen an der Grenze zu Polen mit auf Streife, und die deutschen Grenzer kontrollieren in Apulien», so Bianco: «Die Deutschen meinten, unsere Grenzen seien durchlässig wie ein Sieb. Jetzt sind sie in die Verantwortung mit eingebunden!»