junge Welt, 13.10.2000 Sozialstandards als Randthema EU-Gipfel berät Grundrechte-Charta. Klage über »ausgedünnten« Textentwurf Wenn sich die Staats- und Regierungschefs der 15 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union am heutigen Freitag und am Sonnabend im französischen Biarritz treffen, geht es auch um ein Thema, das lange Zeit ein Schattendasein fristete - die europäische Grundrechte-Charta. Anfang Dezember soll der EU-Gipfel in Nizza die Sammlung politischer und sozialer Bürgerrechte absegnen. Dabei hat der seit nunmehr gut neun Monaten unter Leitung des Ex-Bundespräsidenten Roman Herzog tagende »Grundrechts-Konvent« aus Regierungsbeauftragten der EU-Länder, aus Abgeordneten der nationalen und des Europäischen Parlamentes sowie von Vertretern der Europäischen Kommission bereits einige, wenn auch umstrittene, Vorarbeit geleistet: In Biarritz liegt ein Charta-Entwurf vor, der vermutlich nur noch in wenigen Details geändert wird. »Mit dieser Charta wächst Europa einen ganz entscheidenden Schritt zusammen«, verteilte Bundesaußenminister Joseph Fischer bereits Ende August Vorschußlorbeeren für diese Vorstellungen einer künftigen europäischen »bill of rights«. Ob die Grundrechte-Charta jedoch rechtsverbindlichen Charakter erhält, ist derzeit noch unklar. Das Mandat des Kölner EU-Gipfels vom Juni 1999 ließ diesen Aspekt offen, und auch der Konvent mag die Entscheidung über die Einbindung der Charta in das EU-Gesetzeswerk lieber den Staatsspitzen überlassen. Bei diesen aber existieren nicht wenige Vorbehalte gegenüber einklagbaren Bürgerrechten. Zwar gibt es kaum Differenzen in solchen Punkten wie Würde des Menschen, freie Meinungsäußerung oder Anwendung rechtsstaatlicher Prinzipien. Kritischer sieht es da schon bei sozialen und wirtschaftlichen Rechten aus. Obgleich der Charta-Entwurf hier ohnehin nur Mindeststandards wie Zugang zu kostenloser Bildung oder »würdige Arbeitsbedingungen« vorgibt, könnte es bei einigen Staaten Widerstand geben. Allerdings wird die »Rechtesammlung«, selbst wenn sie Gesetzeskraft erlangen sollte, laut Kölner Vorgaben nur »für die Organe und Einrichtungen der Union« gelten. In den Mitgliedstaaten wird sie ausschließlich in den Bereichen bindend, in denen Gemeinschaftsrecht umgesetzt wird. Gerade die fehlende Rechtsverbindlichkeit und das Zurückfahren der wirtschaftlichen und sozialen Rechte werden von den Nichtregierungsorganisationen (NGO's) kritisiert, die von Anfang an in die Charta-Diskussion einbezogen waren. Die Mitsprache ist ein Fakt, der auch vom Geschäftsführer des Europa-Hauses Land Brandenburg, Horst Grützke, als »grundsätzlich positiv« bewertet wird. Seine Ergänzungsvorschläge für einen stärkeren sozialen Ausbau der Charta hatte der Verein gemeinsam anderen europäischen NGO's schon im Frühjahr dem Konvent übermittelt - Eingang in den Entwurf fanden sie allerdings nicht. Dabei kam den Organisationen zugute, daß sie sich schon lange mit dem Thema Grundrechts-Charta beschäftigen. So arbeitet bereits seit 1996 das »Ständige Forum der Zivilgesellschaft«, ein Zusammenschluß nichtstaatlicher Organisationen und Bewegungen, an der Ausarbeitung einer europäischen »Verfassung«, die politische, wirtschaftliche und soziale Rechte als Komplex festschreiben sollte. Allerdings führten Auseinandersetzungen um die Führung in der »Grundrechte-Bewegung« und die Überfrachtung der Charta mit nachgeordneten Themen - beispielsweise der Förderung von »exotischen« Sprachen wie Esperanto - inzwischen dazu, daß die Stimme der NGO's in der Debatte kaum noch wahrnehmbar ist. Trotzdem werden sich die NGO's in Nizza parallel zum »offiziellen« Gipfel erneut versammeln, um das weitere Vorgehen in Sachen Grundrechte-Charta zu beraten. Denn bei aller Kritik am vorliegenden Entwurf wird auch von ihnen das Papier als erster und wichtiger Schritt in Richtung einer europäischen Verfassung gewürdigt. Und ein greifbares Resultat hat die Diskussion um die Charta bereits gebracht: Den NGO's wird über einen Beobachterstatus künftig mehr Mitsprache in Brüssel eingeräumt. Hinter verschlossenen Türen wollen die EU-Oberen in Biarritz indes vor allem über die institutionellen Reformen sprechen, die im Dezember abgeschlossen werden sollen, bislang aber nur stockend vorankommen. Ungeduldig geworden, drohte der französische Europaminister Pierre Moscovici bereits damit, die Verhandlungen zu verlängern und damit die Erweiterung der Europäischen Union zu verzögern. Einig werden müssen sich die 15 bis zum Dezember-Gipfel in Nizza über die Kommissionsgröße, die Stimmengewichtung im Rat, die Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen und die Erleichterung der verstärkten Zusammenarbeit zwischen integrationswilligeren Mitgliedstaaten. Hans Ulrich |