Le Monde diplomatique 13.10.2000 Interessenkonflikte im Kaukasus Das Nebeneinander der vielen Völker und Volksgruppen im Kaukasus ist auch ein Nebeneinander vielfältiger Konflikte. Der Tschetschenienkrieg, islamistische Operationen in Dagestan, festgefahrene Positionen über die Frage von Berg-Karabach, Unabhängigkeitsbestrebungen Abchasiens und Adschariens in Georgien ... Konflikte die Moskau und Washington für ihre Zwecke beim großen Erdölpoker einzusetzen wissen. DER Machtantritt Wladimir Putins in Moskau fiel zusammen mit einer entscheidenden geostrategischen Wende im Kaukasus. Die Inbetriebnahme der Pipeline von Baku (in Aserbaidschan) zum Schwarzmeerhafen Supsa (in Georgien) am 17. April 1999 beendete die russische Hegemonie über die Erdölexporte aus dem Kaspischen Meer. Die Auswirkungen dieser Wende wurden durch zwei Ereignisketten, im Südkaukasus und in Russland, noch verstärkt. Als Aserbaidschan 1993 mit westlichen Erdölgesellschaften Verhandlungen über Förderabkommen und Exportwege aufnahm, hatte dies auch eine politische Dimension: das Ausscheren der drei südkaukasischen Staaten aus der russischen Einflusssphäre, der sie zwei Jahrhunderte angehört haben. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR wechselten die USA gegenüber dem neuen Russland rasch von einer "Containment"- zu einer "Rollback"-Politik, die darauf abzielt, den russischen Einfluss im Kaukasus zurückzudrängen. Verschiedene Ereignisse aus dem Jahre 1999 belegen dies. Wie schon die Ukraine und Aserbaidschan, die beide Vereinbarungen gar nicht erst unterzeichnet hatten, kündigte im vergangenen Jahr auch Georgien den Vertrag über die kollektive Verteidigung der GUS-Grenzen sowie den Vertrag über die kollektive Sicherheit von Taschkent und zog das, wenn auch ferne, Schutzdach der Nato vor. Auf dem OSZE-Gipfel vom November 1999 in Istanbul unterzeichnete der damalige russische Präsident Jelzin ein Abkommen über die Auflösung von zwei der vier russischen Militärstützpunkte in Georgien - eine Auflösung, mit der tatsächlich, trotz abchasischer Proteste und gewisser Vorbehalte durch den russischen Generalstab - im Verlauf dieses Jahres begonnen wurde. Auch der GUUAM (in dem Georgien, die Ukraine, Usbekistan, Aserbaidschan und die Republik Moldau zusammengeschlossen sind) verstärkt diesen Druck auf Russland von den Rändern her. Auf seiner letzten Zusammenkunft im Mai 2000 in Washington kamen in erster Linie militärische und Sicherheitsfragen zur Debatte. Tatsächlich ist Armenien das letzte südkaukasische Land unter den GUS-Mitgliedern, das noch in den Organen der militärischen Kooperation mit Moskau verblieben ist. Die Ermordung des armenischen Ministerpräsidenten und des Parlamentspräsidenten im Oktober 1999 muss in diesem Kontext gesehen werden. Der Westen übt auf Eriwan einen zweifachen Druck aus: Das Land soll die notwendigen Konzessionen an Aserbaidschan für eine Beilegung des Berg-Karabach-Konflikts machen; und es soll für die Main Export Pipeline (MEP) optieren, also die Pipeline, die das Erdöl aus dem Kaspischen Meer zum türkischen Hafen Ceyhan bringt. Der heftige Streit um das Erdöl hängt natürlich mit dem Höhenflug der Rohölpreise zusammen, der jedes neue Fördergebiet besonders attraktiv erscheinen lässt. Und die US-amerikanische Regierung hat die Debatte noch angeheizt, indem sie ihr eine politische Dimension gab. Nicht zufällig verfasste die CIA einen höchst optimistischen - und wie Fachleute meinen, vollkommen unrealistischen - Bericht über die Ölvorkommen im Kaspischen Meer. Washington und Ankara üben Druck auf die Unternehmen aus, die Pipelineführung durch Georgien und die Türkei mitzufinanzieren - und nicht durch den Iran oder Russland. Dies macht deutlich, dass politischen Zielen der Vorrang gegenüber den ökonomischen Interessen eingeräumt wird, denn die derzeit geförderte Menge an Rohöl wird nicht ausreichen, den Bau und Betrieb dieser Pipeline tatsächlich rentabel zu gestalten. Die nördliche Pipeline wiederum - die Baku mit der russischen Hafenstadt Noworossijsk verbindet - war, nach ihrer Inbetriebnahme im April 1999, auf tschetschenischem Territorium wiederholt Ziel von Angriffen und musste vorläufig stillgelegt werden. Im August desselben Jahres schließlich drangen tschetschenische Separatisten unter Schamil Bassajew und Abd Ar-Rahman Chattab nach Dagestan vor - eine Operation, bei der es um wesentlich mehr als die tschetschenische Unabhängigkeit ging. Die Absicht der Rebellen, gemeinsam mit Dagestan einen islamischen Staat auszurufen, ist angelehnt an ein zweihundert Jahre alten Projekts, das eine erhebliche Schwächung der südlichen Gebiete Russlands bedeuten würde. Von Dagestan oder den anderen nordkaukasischen Völkern, die den tschetschenischen Expansionsbestrebungen misstrauen, werden die Extremisten nicht unterstützt: Doch sie erhalten Hilfe aus der muslimischen Welt, vielleicht sogar noch von anderer Seite: der Großteil ihrer Waffen soll von russischen Soldaten "geliefert" werden. Wenn es darum geht, die Rolle "internationaler terroristischer Organisationen" anzuprangern, sind die Russen zwar schnell bei der Hand, doch eigentlich dürften sie von solcherlei Interventionen in heiklen Regionen ihrer Föderation kaum überrascht sein: Haben sie doch selbst die Konflikte in Abchasien, Ossetien und Berg-Karabach dazu genutzt, ihren Einflussbereich aufrechtzuerhalten und Aserbaidschan und Georgien zum GUS-Beitritt gezwungen. Ganz zu schweigen von den beiden Tschetschenienkriegen, wo nichts die Gewalttaten an der Zivilbevölkerung rechtfertigen kann. Für eine Rückkehr zum Frieden sind wirkliche politische Verhandlungen eine Grundvoraussetzung; nur so kann der Kaukasus seinen einstigen Wohlstand wiedererlangen. Der wachsende Gegensatz zwischen einer Ost-West-Achse (Aserbaidschan, Georgien, Türkei, USA) und einer Nord-Süd-Achse (Iran, Armenien, Russland) trägt kaum zu einem dauerhaften Frieden bei. Damit beide Achsen gleichermaßen bestehen können, muss auf jede Strategie verzichtet werden, die darauf abzielt, einen der Akteure - welchen auch immer - aus dem "großen Spiel" herauszudrängen. dt. Passet/Petschner Fußnoten: Texte zum Thema in Le Monde diplomatique: - Jean Radvanyi: Russischer Wahlkampf im Kaukasus, November 1999. - Vicken Cheterian: Aserbaidschan - vollgetankt ins Ungewisse, Oktober 1999. - Jean Gueyras: Kalter Staatsstreich fast ohne Folgen, Dezember 1998 - Vicken Cheterian: Kaukasische Pipelinenetze und politische Knotenpunkte, Oktober 1997 Relevante Webseiten: - Institute for War and Peace, Caucasus Reporting Service: www.iwpr.net - CEPS Task Force for Caucasus: www.ceps.be - Central Asia-Caucasus Analyst: www.cacianalyst.org - Traceca: www.traceca.org - Post-Soviet Armies Newsletter: www.psan.org |