Süddeutsche Zeitung, 17.10.2000 Ersatzkrieg auf allen Kanälen Die arabische Welt begleitet die Konferenz von Scharm el-Scheich mit Propaganda-Getöse / Von Heiko Flottau Selten ist vor einer entscheidenden Konferenz wie der von Scharm el-Scheich so viel Skepsis geäußert worden. Viele Palästinenser hätten ihren Präsidenten Jassir Arafat am liebsten daran gehindert, nach Ägypten zu fahren. Sie sehen in der diplomatischen Mammutveranstaltung lediglich einen Versuch von Amerikanern und Israelis, die neue Intifada zu beenden. Denn stolz sind die Palästinenser in diesen Tagen vor allem auf eine Entwicklung: dass sie ihre Sache wieder selbst in die Hände genommen haben, statt sie den ohnehin als Vermittler suspekten Amerikanern zu überlassen. Die arabische Welt hat sich der Intifada auf ihre Art angeschlossen. Seit Tagen führt sie eine Art Ersatzkrieg. Auf Satellitenkanälen ertönt ein berühmtes Lied der libanesischen Sängerin Fayruz, einer von allen angebeteten Ikone des arabischen Showbusiness. "Jerusalem gehört uns", singt Fayruz mit sehnsuchtsvoll klagender Stimme. Arabische Zeitungen sind voll von Beiträgen, die mit Bildern palästinensischer "Märtyrer", gefallen im Kampf gegen die "Zionisten", illustriert sind. Arabische Armeen sind wegen ihrer Schwäche zum Nichtstun verdammt; da kommt es manchen Regierenden gerade recht, wenn wenigstens der Volkszorn die arabische Ehre hochhält. Doch trotz aller Proteste der Straße und trotz aller Einwendungen aus Syrien, das in der Konferenz einen Versuch sieht, die palästinensische Revolution zu blockieren, behielt die Diplomatie zunächst die Oberhand. Jassir Arafat reiste nach Scharm el-Scheich, obwohl er noch am Vorabend hatte mitteilen lassen, dass seine Teilnahme so lange fraglich sei, wie eine verbindliche Tagesordnung nicht vorliege. Auch Israels Ministerpräsident Ehud Barak kam, obwohl er Arafat eigentlich als Friedenspartner nicht mehr anerkennt. Kaum jemals hat es solchen internationalen Druck auf Krieg führende Parteien gegeben, einen letzten Versuch zur friedlichen Konfliktlösung zu wagen. Der amerikanische Präsident Bill Clinton sagte in seiner Eröffnungsansprache in Scharm el-Scheich: "Wir können uns einen Fehlschlag nicht leisten". Der Aufstieg Scharm el-Scheichs zu einem internationalen Konferenzort hängt eng mit der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung Ägyptens zusammen. Scharm war ein verträumter Ort am Südende der Halbinsel Sinai, bis Ägypten den Tourismus als Devisen-quelle entdeckte. Heute hat Scharm el-Scheich einen internationalen Flughafen. Die einst unberührte Küste mit ihren berühmten Korallenriffen ist auf viele Kilometer mit Fünf-Sterne-Hotels zugebaut. Schließlich hat auch die internationale Nahost-Diplomatie den aus dem Nichts gestampften Badeort entdeckt. Scharm liegt abseits der Millionenmetropolen Kairo und Alexandria, in denen im Zeitalter des Terrorismus die Sicherheit so vieler Politgrößen nur schwer zu gewährleisten ist. Scharm hat kein dicht besiedeltes Hinterland, aus dem sich Gewalttäter unbemerkt anschleichen könnten. So kam es, dass 1996 gerade hier eine Konferenz tagte, die den internationalen Terror verurteilte. 62 Israelis waren im Frühjahr 1996 durch Selbstmordanschläge der radikalen palästinensischen Hamas-Bewegung umgekommen. Auf Initiative Clintons versammelten sich im März 1996 politische Führer aus 29 Ländern in Scharm, um eine Charta gegen den Terrorismus zu verabschieden. Unter ihnen waren Jassir Arafat und der damalige israelische Premier Schimon Peres. Am 4. September 1999 trafen sich in Scharm Israelis, Palästinenser, Ägypter und Amerikaner, um einen neuen Anlauf zum Frieden zu nehmen. Im Oktober 1998 war auf der amerikanischen Wye-Plantage ein Abkommen unterzeichnet worden, das einen abermaligen israelischen Truppenrückzug aus dem Westjordanland vorsah. In Scharm el-Scheich wurde dieses Abkommen weiter entwickelt und ein Datum für eine endgültige Lösung des Konfliktes gesetzt: der 13. September 2000. Dieser Termin war eines der vielen Daten, die im Verlauf des 1993 in Oslo begonnenen Friedensprozesses gesetzt wurden und die ohne Ergebnis verstrichen. Nach dem Ausbruch der zweiten Intifada am 28. September und nach den vergeblichen Pariser Friedensverhandlungen von Anfang Oktober kamen US-Außenministerin Madeleine Albright, Arafat und Ägyptens Präsident Hosni Mubarak noch einmal in Scharm zusammen. Nun abermals Scharm el-Scheich. Man kann ohne Übertreibung behaupten, dass die Zukunft der gesamten Region, die zu einem Teil auch die Zukunft Europas und Amerikas ist, in Scharm el-Scheich entschieden wird. Ob die Region vor einem langen Kleinkrieg steht oder ob es doch Friedensverhandlungen gibt, die diesen Namen verdienen - über diese wirkliche Schicksalsfrage wird in Scharm el-Scheich entschieden. |