Süddeutsche Zeitung, 17.10.2000 Präsident des ewigen Konflikts Jassir Arafat ist gefangen in der Rolle des Opfers - mit ihm ist kein Staat mehr zu machen / Von Thorsten Schmitz Der hastig arrangierte Not-Gipfel in Scharm el-Scheich beruht auf einer wechselseitigen Erpressung. Das Szenario ist simpel: Clinton musste Arafat versprechen, den beim letzten Gipfel in Camp David ausgehandelten Kompromiss nicht publik zu machen, weil die Verweigerung Arafats im Licht der weitgehenden Konzessionen der Israelis als Instinktlosigkeit interpretiert würde. Clinton wiederum war erpressbar, weil er vor den Wahlen in den USA keinen brennenden Nahen Osten gebrauchen kann. Ein Präsidentschaftskandidat George Bush, der sich genüsslich über das vielfache Scheitern des Friedensmoderators Clinton und dessen Stellvertreters Gore lustig macht, ist ein Albtraum der Wahlkampfstrategen der Demokraten. Also musste Arafat Clinton zusagen, er werde bis zum Wahltag für Ruhe in den palästinensischen Gebieten sorgen. Und siehe da: es funktioniert. Die Gewalt ebbt ab, die Diplomatie hat das Wort - und Arafat die Zügel in der Hand. Es grenzt an bloßes Gerede, dass der alternde Palästinenserpräsident (dessen reguläre Amtszeit bereits im Mai 1999 abgelaufen war) die Lage nicht im Griff habe. Im Gegenteil: Arafat höchstpersönlich steht hinter der jüngsten Gewaltwelle, die er zumindest bereitwillig toleriert, wenn nicht gar initiiert hat. In Wahrheit muss der Präsident dem Brandstifter Ariel Scharon dankbar sein. Der hat mit seiner Stippvisite auf der Tempelberg-Esplanade nur die Lunte gezündet zu Arafats Krieg. Denn Arafat kämpft ums Überleben und kann alles gebrauchen - nur keinen Endstatus in den Beziehungen zu Israel. Insofern findet er Gemeinsamkeiten mit Scharon, dessen mittelalterliches Gut-Böse-Schema nur in Kriegszeiten funktioniert. Arafat hat Angst vor dem Frieden und vor dem eigenen Volk. Die von ihm orchestrierten Unruhen sollen den Status quo zementieren und davon ablenken, dass Arafat seinem Volk sieben Jahre nach der Konferenz von Madrid keinen wirtschaftlichen Aufschwung ermöglicht. Mit Barak war Arafat einem Frieden gefährlich nahe gekommen. Barak ist der konzessionsfreudigste israelische Premier - sogar über Jerusalem ließ er mit sich reden und nahm dafür die Auflösung der Regierungskoalition in Kauf. Insofern war Baraks verteufelter Vorgänger Netanjahu der bessere Gegenspieler für Arafat. In dieser Konstellation war Arafat der Gute, zu bemitleiden und zu unterstützen. Kein Präsident besuchte öfter das Weiße Haus, und die EU ließ den Geldfluss in die Palästinensergebiete nicht versiegen - obwohl ihre Rechnungsprüfer wiederholt festgestellt hatten, dass nur ein Bruchteil etwa in die Infrastruktur fließt. Mit einem Großteil des Geldes bezahlt Arafat Polizisten und milizähnliche Soldaten, die ihm die Hände küssen und dabei zuschauen, wie israelische Soldaten gelyncht werden. Sie werden Arafat immer hörig sein, weil er ihnen ein Einkommen garantiert. Arafat fürchtet sich auch vor seinem zunehmend radikalisierten Volk. Gäbe es demokratische Wahlen, wäre er kein Präsident mehr. Palästinensische Intelligenzia und Geschäftsleute würden Arafat schnell ablösen. Zu laut sind die Klagen über Korruption und fehlende Meinungsfreiheit. Arafat hat über die Jahre hinweg sein Volk belogen. Er hat sich nie getraut, die Wahrheit zu sagen, dass nämlich ein Ausgleich mit Israel einen Kompromiss voraussetzt: Nie würden palästinensische Flüchtlinge nach Akko oder Haifa zurückkehren können. Die Palästinenser könnten längst freier und in geringerer Armut leben, wenn Arafat nicht dazu neigte, alles Erreichte durch Gewalt zu zerstören. Arafat ist so sehr in der Rolle des ewigen Opfers gefangen, dass er nicht erkennen will, welche Chance Barak bietet. Die Unruhen sind nur Ausdruck dieser Grundhaltung. Barak sagt nun bereits, dass es mit dem palästinensischen Volk irgendwann einen Frieden geben werde, nicht aber "mit der derzeitigen Führung". Auch Clinton hat den Präsidenten der Palästinenser aufgegeben. Die Konfliktparteien warten auf Arafats Nachfolger. |