Süddeutsche Zeitung, 17.10.2000 Die Planspiele des Premiers Um Arafat unter Druck zu setzen, verhandelt Barak mit dem rechts-nationalen Likud über eine Regierungsbeteiligung / Von Thorsten Schmitz Das Blutbad der vergangenen zweieinhalb Wochen und das Not-Gipfeltreffen in Scharm el-Scheich wären vermeidbar gewesen. Man stelle sich vor: Israels Likud-Chef Ariel Scharon wäre an jenem 28. September auf die Tempelberg-Esplanade spaziert und hunderte Palästinenser hätten ihn mit einem Ständchen empfangen, ihm die Hand geschüttelt und zum Tee-Umtrunk gebeten. Israel wäre entzückt gewesen über so viel Friedfertigkeit und hätte leichteren Herzens den Palästinensern die Souveränität über 860 Quadratmeter Tempelberg abgetreten. Und Scharon? Sein Kalkül, eine zweite Intifada heraufzubeschwören und somit den eigenen politischen Wert zu steigern, wäre nicht aufgegangen. Leider ist es anders gekommen, und Ariel Scharon, der in arabischen Kreisen seit den Massakern in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila 1982 nahe der libanesischen Hauptstadt Beirut nur noch "der Schlächter" genannt wird, ist mehr denn je Strippenzieher und politisches Schwergewicht. Dass Israels Premierminister Ehud Barak wenige Stunden vor seinem Abflug nach Scharm el-Scheich mit Scharon zusammengetroffen ist, um ihn zur Regierungsbeteiligung zu überreden, ist in erster Linie ein Signal an Palästinenserpräsident Jassir Arafat: Er solle schleunigst die Unruhen in seinen Gebieten in den Griff bekommen - ansonsten drohe ein gemeinsames Regieren von Barak und Ariel Scharon als stellvertretendem Premier- und Verteidigungsminister. Das wäre das Ende des friedlichen Dialogs. Durch das Treffen mit Scharon gibt Barak zudem Parteien wie der linken "Meretz" und der ultra-orthodoxen "Schas", die seine Koalition im Juli verlassen haben, zu verstehen, sie sollten zurückkehren. Mit ihnen könnte Barak leichter einen Endstatus finden in den Beziehungen zu den Palästinensern als mit dem rechts-nationalen Likud. Barak ist ein Stratege, der als Ex-Generalstabschef gelernt hat, die Welt und ihre Probleme wie Planspiele zu begreifen - und zu lösen. Eine Koalition mit Likud und anderen Parteien würde sein politisches Überleben sichern und Neuwahlen hinauszögern. Denn Barak ist ein Premier ohne Mandat: er verfügt nur noch über 40 Abgeordneten-Stimmen im 120-köpfigen Parlament. So wird er nach dem Gipfeltreffen in Scharm el-Scheich die Verhandlungen mit den zionistischen Parteien im israelischen Parlament, der Knesset, wieder aufnehmen, also allen außer den arabischen und den kommunistischen. Noch hat sich Barak nicht entschieden, ob er eine Notstandsregierung bilden möchte oder eine "Regierung der nationalen Einheit". In einer Notstandsregierung müssten sich die beteiligten Parteien nicht auf eine politische Plattform einigen. Einzige gemeinsame Prämisse wäre, sich um die Wiederherstellung der Ruhe zu bemühen. Am Ende einer einmonatigen Frist würde das weitere Vorgehen beschlossen: Verlängerung des Provisoriums oder Neuwahlen. Für die Bildung einer "Regierung der nationalen Einheit", also einer großen Koalition, müssten sich die in Frage kommenden Parteien auf politische und diplomatische Leitlinien einigen. Dazu würde auch die Bestallung von Ministern gehören. Im derzeitigen Kabinett Baraks sind neun Posten vakant und mehrere Ministerien interimistisch besetzt, etwa das des Äußeren mit dem linken Schlomo Ben-Ami. Scharon hat eine Beteiligung an einer Notstandsregierung abgelehnt und favorisiert eine große Koalition. Die Teilnahme des Likud an einer "Regierung der nationalen Einheit" macht er aber davon abhängig, dass Barak von seinen in Camp David gemachten Konzessionen an die Palästinenser, etwa in der Jerusalem-Frage, Abstand nimmt. Auch einen neuen Außenminister würde der Likud berufen wollen. Allerdings verfügt Scharon in der 19-köpfigen Likud-Fraktion nur über wenig Spielraum. Zehn Abgeordnete sprachen sich für eine große Koalition aus, neun dagegen. Diese neun sollen dem ehemaligen Premierminister Benjamin Netanjahu nahe stehen, der für eine einmonatige Notstandsregierung und gegen eine große Koalition ist. Denn Netanjahu möchte bei Neuwahlen wieder ins Amt des Premiers gewählt werden. In Umfragen liegt er bereits weit vor Barak - und vor seinem Parteigenossen Scharon. |