Neue Zürcher Zeitung (CH), 19.10.2000 Zeugnisse der Grausamkeit Kampagne gegen Folter von Amnesty International Ein in weiten Teilen der Welt überwunden geglaubtes Phänomen dauert unvermindert an: In siebzig Staaten wird systematisch gefoltert. Obwohl die Ächtung der Folter im Völkerrecht verschiedentlich Niederschlag gefunden hat, ist eine Ausrottung der Misshandlungen nicht in Sicht. Eine Kampagne von Amnesty International stellt diese Missstände während vierzehn Monaten weltweit an den Pranger. fcl. Bern, 18. Oktober Der Kampf gegen Folter ist gewissermassen die raison d'être von Amnesty International. Bereits die erste internationale Kampagne hatte 1972 die Abschaffung der Folter ins Visier genommen. Mitte der achtziger Jahre nahm die Organisation einen weiteren Anlauf. Der moralische Druck auf die Regierungen wuchs in der Folge beträchtlich und verdichtete sich schliesslich im Willen der Staatengemeinschaft, gegen Folter in einem verbindlichen internationalen Vertrag vorzugehen: 1984 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die «Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe». Dies nachdem ein Folterverbot schon verschiedentlich in nicht bindenden Resolutionen statuiert worden war. 120 Länder haben den Vertrag bis heute ratifiziert, weitere neun Staaten haben ihn signiert. Angesichts der Fortschritte auf internationaler Ebene müsste man vermuten, die Staatengemeinschaft sei dem Übel inzwischen Herr geworden.Doch der jetzt von Amnesty International publizierte Bericht «Für eine Welt frei von Folter», kommt zu einem gegenteiligen Schluss. Während dem Zeitraum von 1997 bis Mitte 2000 hat die Organisation über 195 Länder und Territorien untersucht. Das Ergebnis: Die Folterspirale dreht sich unvermindert schnell. Zahlen des Schreckens In einer weltweiten, vierzehn Monate dauernden Kampagne möchte Amnesty International jetzt erneut gegen die Misshandlungen vorgehen. In Japan, im Libanon, in Kenya, Grossbritannien und Argentinien fanden zeitgleich Pressekonferenzen statt. Das Gesicht der Folterungen ist über die Jahre allerdings nicht das selbe geblieben. Wie der Kanadier Serge Patrice Thibodeau, Autor des letzten Berichts von Amnesty International, an einer Medienkonferenz erklärte, haben sich insbesondere die Opfer gewandelt. Während man früher auf Grund einer begangenen Tat oder eines Verdachts gefoltert worden sei, treffe es heute Menschen allein wegen ihrer Randständigkeit. So seien insbesondere Übergriffe auf die Ärmsten, Gleichgeschlechtliche oder auf Andersfarbige in gewissen Staaten häufig. Aufruf an die Schweiz Untermauert wurde diese Forderung von der Berner SP-Nationalrätin Ruth Gaby Vermot- Mangold. Vor allem die Aussenwirtschaftspolitik bedürfe einer sehr genauen Überprüfung auf ihre Redlichkeit und den Schutz der Menschenrechte. Es sei nicht tolerierbar, dass die Schweiz Staaten wie der Türkei Exportrisikogarantien gewähre, führte sie aus. Die Sozialdemokratin scheute auch nicht davor zurück, Verantwortliche beim Namen zu nennen: Sie spreche neben der Türkei besonders von China und Israel, sagte Vermot-Mangold. Dass sie jedoch auch Gewaltverbrechen in der Familie oder die «Zwangsrückführungen von Asylsuchenden» unter die Folter subsumieren möchte, scheint nicht unbedingt geeignet, den ohnehin schwammigen Begriff zu schärfen. Ein Zeugnis der Grausamkeit legten schliesslich auch der algerische Anwalt und Folterüberlebende Rachid Mesli und der kurdische Journalist Ishan Kurt ab. Beide Opfer verwiesen auf eine systematische Strategie zur Niederhaltung der Opposition sowohl in Algerien als auch in der Türkei. |