taz 19.10.2000 48 Stunden Probezeit in Nahost Bei gewaltsamen Unruhen zwischen Israel und Palästina auch nach der Vereinbarung von Scharm al-Scheich gab es mehr als 20 Verletzte. Die Spekulationen über die wahren Einflussmöglichkeiten der palästinensischen Führung halten an aus Jerusalem SUSANNE KNAUL Trotz der Anstrengungen, die sowohl die israelische als auch die palästinensische Seite in Nahost unternehmen, ist es gestern erneut zu Unruhen und Verletzten gekommen. An verschiedenen Konfliktpunkten im Gaza-Streifen warfen Demonstranten Steine und Molotowcocktails auf israelische Militärstationen. Dabei sollen auch geringe Sprengstoffmengen benutzt worden sein. Im Gaza-Streifen wurden bis gestern mehr als 20 Palästinenser verletzt, darunter ein 12-jähriger Junge, der mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus gebracht wurde. Im Süden des Gaza-Streifens beschossen jüdische Siedler mehrere Palästinenser, von denen fünf schwere Verletzungen erlitten haben sollen. Zu neuen Auseinandersetzungen kam es auch in Hebron, wo einige Demonstranten festgenommen wurden. In Ramallah gab die israelische Armee derweil die Festnahme von acht Palästinensern bekannt, die an den Lynchmorden der vergangenen Woche beteiligt gewesen sein sollen. Dort waren zwei israelische Reservesoldaten von einer aufgebrachten Menschenmenge in der Polizeistation der Stadt getötet worden. Einer der Täter war nach dem Mord mit blutverschmierten Händen ans Fenster der Polizeistelle getreten. Nach bisher unbestätigten Meldungen gelang es dem Mann unterzutauchen, bevor die Militärs ihn verhaften konnten. Von palästinensischer Seite verlautete, dass die Verhafteten nicht der Tansim angehören, der palästinensischen Fatah-Organisation, die die Unruhen kontrollieren soll. Der israelische Hörfunk "Stimme Israels" zitierte unterdessen "ein Mitglied der israelischen Verhandlungsdelegation" mit der Vermutung, dass Palästinenserpräsident Jassir Arafat nicht nur die Situation nicht beruhigen werde. Er wolle sogar zusätzlich anheizen, um ein internationales Eingreifen zu erzwingen. 24 Stunden nach Beendigung des Nahost-Gipfels in Scharm al-Scheich veröffentlichte die Palästinenserbehörde jedoch "im Namen der palästinensischen Führung" über eine Nachrichtenagentur in Gaza, dass sie alles unternehmen werde, um eine Rückkehr in die Gewalt zu unterbinden. Die Ankündigung kam infolge der erneuten israelischen Verpflichtung, eine Waffenruhe einzuhalten. Damit begann eine 48-stündige Probezeit in Nahost, während der die verfeindeten Konfliktparteien prüfen wollen, ob die Vereinbarungen von Scharm al-Scheich von der jeweils anderen Seite eingehalten werden. Vertreter der Sicherheitskräfte beider Seiten waren gestern wiederholt zur gegenseitigen Absprache zusammengekommen. Sowohl unter den Palästinensern als auch auf israelischer Seite verstärkten sich im Laufe des Tages die Zweifel, wie weit die in Scharm al-Scheich getroffenen Vereinbarungen langfristig durchgesetzt werden können. Nabil Abu Rudeineh, ein politischer Berater Arafats, erklärte, dass es wichtig sei, den Waffenstillstand durchzuhalten, um zum Ausgangspunkt der Lage vor den Unruhen zu kommen. "Wir stehen an einem Scheidepunkt", erklärte Rudeineh. Von entscheidender Bedeutung sei auch der Ausgang des arabischen Gipfels am kommenden Wochenende. Ägyptens Präsident Husni Mubarak hatte die arabischen Staatschefs zu einem Sondertreffen nach Kairo eingeladen. Aus Libyen kam aber eine Absage. Präsident Muammar al-Gaddafi begründete seinen Verzicht damit, dass er ohnehin nicht mit konkreten Maßnahmen gegen Israel rechne, wie etwa mit einem Abbruch der diplomatischen Beziehungen. |