Süddeutsche Zeitung, 19.10.2000 Streit in der Union über Ausländerpolitik Wieder Kritik an Fraktionschef Merz Saarländischer Regierungschef Müller lehnt Zahlendiskussion über Einwanderung ab / Von Susanne Höll Berlin - Unionsfraktionschef Friedrich Merz ist auch mit einem neuen Vorstoß zur Zuwanderungspolitik in den eigenen Reihen auf Widerspruch gestoßen. Der saarländische Ministerpräsident und Chef der CDU-Einwanderungskommission, Peter Müller, äußerte sich kritisch zum Vorschlag von Merz, jährlich etwa 200 000 Ausländer aufzunehmen. Im innerparteilichen Disput um die Einwanderung ging Merz jetzt in die Offensive, rügte scharf seine internen Kritiker und widersprach dem Vorwurf, er habe zu zeitig Wahlkampfthemen festgelegt. Nach SPD, Grünen, einigen Vertretern von CDU und Wirtschaft warnte auch der Zentralrat der Juden vor Ausländerdebatten im Wahlkampf. Müller sagte der Süddeutschen Zeitung, für Zahlendiskussionen sei es zu früh. Zunächst müsse sich die von ihm geleitete CDU-Kommission auf die Ziele der Zuwanderungspolitik verständigen. Davon hänge das Maß der Einwanderung ab: "Die Diskussion über Zahlen steht am Ende, nicht am Anfang der Debatte. Merz hatte der Rheinischen Post gesagt, mehr als 200 000 Zuwanderer könne Deutschland nicht integrieren. Nach den Worten eines Fraktionssprechers bedeutet dies aber keine Festlegung der Unionsfraktion in dieser Frage. Müller, der die Kommission noch dieses Jahr zu ersten Sitzungen zusammenrufen will, legte sich auf keine Zahl fest. Entscheidend sei, ob man Zuwanderung auch aus demografischen Gründen wolle. "Bei einer Zuwanderung von 200 000 netto - das heißt, 200 000 mehr Menschen pro Jahr als Deutschland verlassen - würde die Zahl der Einwohner bis 2050 um etwa zehn Millionen sinken. Das Verhältnis zwischen Jungen und Alten gerät dann aus den Fugen, verbunden mit erheblichen Problemen für die sozialen Sicherungsprobleme. Seiner Partei, die seit einer Woche über die Frage von Einwanderung als Wahlkampfthema streitet, riet Müller zu Augenmaß: "Ich empfehle der Union, die Beratungen der CDU-Kommission abzuwarten und sich dann mit den Ergebnissen zu beschäftigen. Übertriebene Hektik ist fehl am Platz. Die Debatte darf weder tabuisiert noch instrumentalisiert werden." Nach seinen Worten wird die Kommission spätesten Mitte 2001 einen Bericht vorlegen, wenn auch die Expertengruppe der Bundesregierung zur Einwanderung ihre Arbeit abschließen will. Merz kündigte in der Frankfurter Allgemeinen an, die strittige innerparteiliche Zuwanderungsdebatte bei der Sitzung der Unionsfraktion am Dienstag zum Thema zu machen. Persönliche Abrechnungen mit Kritikern, darunter auch Fraktionsvize Volker Rühe, hat er dabei offenbar nicht vor. Nach Auskunft eines Fraktionssprechers soll es um "Positionen, nicht um Personen gehen". Merz sagte, er habe mit seinen Äußerungen deutlich machen wollen, dass die CDU sich keine Themen verbieten lasse. Er habe aber nie vorzeitig Wahlkampfthemen festgelegt. Dass CDU-Politiker eine Unterstellung übernähmen, um sich von ihm zu distanzieren, sei "mehr als erstaunlich", sagte er. CDU-Chefin Angela Merkel war auf Distanz zu Merz gegangen und hatte erklärt, für die Definition von Wahlkampfschwerpunkten für das Jahr 2002 sei es noch zu früh. Rühe bekräftigte derweil seine Position, wonach sich das Thema Einwanderung nicht für den Wahlkampf eigne. Auch der Präsident des Zentralrats der Juden, Paul Spiegel, riet eindringlich davon ab. Dies wäre "willkommene Argumentationshilfe" für Rechtsradikale, sagte er der dpa. |