Neue Zürcher Zeitung (CH), 23. Oktober 2000
Kein Abschied vom Friedensprozess in Kairo
Finanzhilfe der arabischen Staaten für die Palästinenser
Zum Abschluss des Gipfeltreffens der Arabischen Liga in Kairo haben die
Mitglieder beschlossen, am Friedensprozess im Nahen Osten festzuhalten.
Trotz weiteren Todesopfern und Massendemonstrationen in den palästinensischen
Gebieten konnten sich die arabischen Staatschefs auf keine scharfen Massnahmen
gegen Israel einigen.
ber. Kairo, 22. Oktober
Das «Notfall-Gipfeltreffen» in Kairo der Arabischen Liga
ist am Sonntagmittag mit einer langen Liste von Verurteilungen und Forderungen,
doch mit nur wenigen konkreten Beschlüssen zu Ende gegangen. Israel
wurde im Abschlusscommuniqué als allein verantwortlich für
die Unruhen der vergangenen drei Wochen im Gazastreifen und in Cisjordanien
bezeichnet. Israels aggressives, kriegstreiberisches Verhalten habe die
Gegend in eine Atmosphäre der Gewalt und der Angst gestürzt.
Dennoch wurden keine Massnahmen gegen den jüdischen Staat ergriffen.
Die arabischen Staatschefs betonten, sie wollten sich weiterhin für
einen gerechten und umfassenden Frieden im Nahen Osten einsetzen.
Ball bei Israel
Der ägyptische Aussenminister Musa meinte bei der anschliessenden
Pressekonferenz, nun seien wieder die Israeli am Ball. Wenn sich zeige,
dass das eigentliche Ziel ihrer Gewalttätigkeiten die Beendigung
des Friedensprozesses sei, so sehe die Erklärung des Gipfeltreffens
harte Massnahmen vor. Der wichtigste Schritt wäre in diesem Fall
der totale Abbruch der diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen
zu Israel. Als Sofortmassnahme werden die arabischen Staaten nur verpflichtet,
keine neuen Beziehungen zu Israel aufzunehmen und laufende Normalisierungsprozesse
einzustellen. In der Abschlusserklärung heisst es, die arabischen
Staaten würden bis auf weiteres allen regionalen wirtschaftlichen
und politischen Konferenzen fernbleiben, an denen Israel teilnehme. Weiter
forderten die arabischen Staatschefs die Uno auf, die Palästinenser
mit internationalen Truppen zu schützen. In einer Resolution verlangen
die 22 Mitglieder der Arabischen Liga ausserdem die Einsetzung eines internationalen
Kriegsverbrechertribunals, das die israelischen Verantwortlichen vor Gericht
stellt. Auch die bereits mehrmals aufgestellte Forderung nach einem internationalen
Komitee, welches die Ursachen des nun drei Wochen währenden Gewaltausbruchs
aufspürt, wurde erneut erhoben.
Keine Druckmittel
Auf den Vorschlag Saudiarabiens hin wurde beim Gipfeltreffen beschlossen,
zwei Fonds für die Anliegen der Palästinenser einzurichten.
Der Intifada-Fonds über 200 Millionen Dollar soll als Soforthilfe
für die Familien der Palästinenser eingesetzt werden, die in
den vergangenen Wochen bei den Unruhen umkamen oder verletzt wurden. Der
Kuds-Fonds über 800 Millionen Dollar soll der Bewahrung der arabischen
und muslimischen Identität Ostjerusalems dienen.
Beobachter sehen die schwache Abschlusserklärung als ein Resultat
des gemässigten Kurses, wie er vor allem vom ägyptischen Präsidenten
Mubarak vertreten wird. Von allen arabischen Staaten unterhalten nur Ägypten
und Jordanien volle diplomatische Beziehungen zu Israel. Weitere fünf
pflegen (oder pflegten bis vor kurzem) Beziehungen auf einem niedrigeren
Niveau. Wortreich setzten sich am ersten Tag der Konferenz in Kairo mehrere
Staatschefs für den Abbruch jeglicher Kontakte zu Israel ein. Wahr
gemacht hat die Drohung Tunesien, das am Samstag sein Verbindungsbüro
in Tel Aviv und dasjenige Israels in Tunis schloss. Im Übrigen wurden
trotz der scharfen Kritik an Israels Vorgehengegen palästinensische
Demonstranten nur wenige Lösungsvorschläge vorgebracht. Der
Einsatzdes Öls als Druckmittel wurde nicht einmal diskutiert. Die
libysche Delegation verliess am Samstagdas Treffen mit der Begründung,
dass die Arabische Liga Israel viel zu nachsichtig behandle. Der Revolutionsführer
Ghadhafi hatte bereits vorher in einem Interview mit dem arabischen Fernsehsender
Al-Jazira prophezeit, beim Arabergipfel werde wie immer viel geschwatzt
werden; positive Konsequenzen für die Palästinenser werde er
hingegen nicht zeitigen. Der irakische Vertreter für den ebenfalls
nicht angereisten Saddam Hussein rief zum Jihad, zum heiligen Krieg,und
zur «Befreiung Palästinas von den schmutzigen Zionisten»
auf.
Der schlimmste Tag
Während des Gipfel-Wochenendes in Kairo trieb die «Aksa-Intifada»
einem neuen Höhepunkt entgegen. Der Samstag war in Gaza mit neun
Begräbnissen und fünf neuen Opfern der bisher schlimmste Tag
überhaupt. Die Ärzte im Spital von Khan Yunis erklärten
sich ob des unablässigen Eintreffens von neuen Verletzten als überfordert.
Sie bezifferten die bisherige Zahl der Toten auf 200 und die der Verletzten
auf 7000. Die meisten seien junge Männer unter zwanzig Jahren. Die
Kugeln steckten praktisch immer im Kopf, im Bauch oder im Rücken.
Aus diesem Grund würden zahlreiche Verletzte gehunfähig bleiben.
Die Ärzte schätzen die Zahl der für immer Gelähmten
auf zehn Prozent der Verletzten. In Gaza fand am Samstagnachmittag die
grösste Demonstration der letzten drei Wochen statt. Zum ersten Mal
trugen dabei die Demonstranten nicht nur Plakate von Arafat, sondern auch
Porträts von Saddam Hussein. Ihre Träger riefen, sie wollten
keinen Frieden und keine Gipfelkonferenzen mehr, sondern Krieg.
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