Neue Zürcher Zeitung (CH), 23.10.2000 Die Türken unter «Hausarrest» Durchführung einer Volkszählung it. Istanbul, 22. Oktober Am Sonntag hat in der Türkei zwischen fünf Uhr morgens und sieben Uhr abends eine allgemeine Ausgangssperre gegolten. Dieser «Hausarrest» war vom Statistischen Institut angeordnet worden, um eine Volkszählung durchführen zu können. Ein Heer von 950 000 Zählenden zog von Haus zu Haus und erfasste mit 43 detaillierten Fragen den sozialen Stand sowie den Gradder Ausbildung der Bürger. Fragen nach dem ethnischen Ursprung, der Religion oder der Muttersprache waren hingegen nicht erlaubt. So wird auch in der neuen Statistik nirgends aufgeführt werden, dass es in der Türkei Kurden gibt. Laut der Tageszeitung «Cumhurriyet» entstand am Sonntag die verwirrende Situation, dass die Zählenden im hauptsächlich von Kurden bewohnten Südosten oft auf Übersetzer angewiesen waren, obwohl es offiziell keine Kurden gibt. Türkische Zeitungen prangerten den im Fragebogen aufgeführten Begriff «Herr des Hauses» an. Es handle sich um eine Mentalität, die Frauen noch immer als Willenlose betrachte, meinte eine Menschenrechtsorganisation. Die Tourismusbranche reagierte mit Verwunderung darauf, dass auch über Touristen ein Ausgangsverbot verhängt worden war. Ob es sinnvoll sei, Touristen zu fragen, ob sie kinderlos seien oder eine Toilette im Hause hätten, fragte der Tourismusminister Erkan Mumcu. Doch das Statistische Institut argumentierte, es handle sich diesmal nicht um eine einfache Volkszählung, sondern um eine sozioökonomische Untersuchung. Die Volkszählung führte zu einem neuen sozialen Phänomen, zur sogenannten Einwohnerjagd.Als Jäger fungierten in diesem Fall die Gemeinden. Da der Anteil an staatlichen Subventionendirekt von der Zahl ihrer Einwohner abhängt, hatten die Gemeinden ihre Bürger dazu aufgerufen, am Sonntag zu Hause zu bleiben. Für den Fall des Wegbleibens drohten sie mit Strafen. Die Verwaltung der Hauptstadt Ankara will beispielsweise für nicht statistisch erfasste Bürger die Wasser- und Erdgasrechnung um fünfzig Prozent erhöhen. Bei der letzten Volkszählung waren 62,6 Millionen Türken befragt worden. Inzwischen soll die Bevölkerung auf rund 65 Millionen angewachsen sein.
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