Frankfurter Rundschau, 24.10.2000

Was ist eigentlich ein integrierter Deutscher ?

Zur Debatte über die "Leitkultur", die Gewährung von Asyl und Zuwanderung sowie die Integration von Ausländern / Von Dieter Oberndörfer

Auf der Suche nach Wahlkampfthemen entdecken führende Christdemokraten aus Bayern oder Berlin erneut das Thema Zuwanderung und Asyl. Da lässt sich kräftig schüren, denkt sich der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Friedrich Merz. Vor wenigen Tagen erst nahm er das Wort von der deutschen "Leitkultur" wieder auf, das von seinem bayerischen Kollegen Günter Beckstein stammt. Der Freiburger Politikwissenschaftler Dieter Oberndörfer greift mit dem folgenden (leicht gekürzten) Beitrag, der auf einem Vortragstext bei einer Veranstaltung von Pro Asyl basiert, in die aktuelle Debatte ein.

1.

Asylrecht im demokratischen Verfassungsstaat

(. . .) In der Welt der Nationalstaaten besteht in allen politischen Gemeinschaften ein politischer Zwang zur Abgrenzung. Zugleich wirken sich in den demokratischen Verfassungsstaaten bei der Definitionen des "Möglichen", also auf die Bestimmung der Grenzen für Zuwanderung und Asylgewährung, auch die nationalen Ideologien ihrer Entstehungsgeschichte aus. So wird in Deutschland die Liberalisierung der Asylpolitik und von Zuwanderung nicht zuletzt durch die Überlebenskraft der überlieferten völkischen Ideologie blockiert. Ihr zufolge muss Deutschland ein Land von Menschen deutscher Abstammung und deutscher Kultur sein, von dem Fremde und Fremdes ausgeschlossen bleiben sollen, - eine Vorstellung, die durch die Privilegierung deutschstämmiger Aussiedler gegenüber fremdvölkischen Ausländern bei Zuzug und Einbürgerung dokumentiert und indirekt bekräftigt wurde.

Die in allen demokratischen Verfassungsstaaten vorhandene Spannung zwischen ihren weltbürgerlichen Grundrechtspostulaten und ihren Abgrenzungen von anderen Staaten und deren Menschen findet sich auch im Grundgesetz Deutschlands.

So beginnt das GG in Artikel 1 mit den Sätzen: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das deutsche Volk bekennt sich daher zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht". In den folgenden Grundrechtsartikeln 2 bis 5 zu Freiheit der Person, der Gleichheit vor dem Gesetz, der Glaubens- und Meinungsfreiheit wird dieser universale Charakter der Menschenrechte expliziert. So heißt es in Artikel 2: "Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. (. . .) jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, die Freiheit der Person ist unverletzlich." Artikel 3 GG führt aus: "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, Männer und Frauen sind gleichberechtigt, niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden." Artikel 5 billigt die Meinungsfreiheit "jedem" zu. Artikel 6 zum Schutz der Ehe und Familie bezieht sich nicht nur auf deutsche Familie. So heißt es: "Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft." Ab Artikel 8 ändert sich dann aber die Sprachregelung. Nun ist im Widerspruch zu den Artikeln 1 bis 3 in den Artikeln zur Versammlungs- , Vereinigungs- , Berufsfreiheit und Freizügigkeit nur von Rechten für "alle Deutschen" die Rede. So sagt Artikel 11 lapidar: "Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet." Im maßgeblichen Kommentar zum GG von Maunz-Düring wurde diese unübersehbare Diskrepanz zwischen den so genannten "Deutschenrechten" und den allgemeinen Menschenrechten der Artikel 1 bis 3 jahrzehntelang unkritisch und unreflektiert hingenommen. Dies ist ein Sachverhalt, in dem sich vielleicht auch der inzwischen bekannt gewordene politische Horizont des Staatsrechtslehrers Maunz ausdrückte, eines heimlichen Freundes von Gerhard Frey, dem Herausgeber der "Deutschen Nationalzeitung".

Die Kluft zwischen weltbürgerlichen Grundrechtspostulaten und politischer Praxis gibt es in allen demokratischen Verfassungsstaaten. Sie ist nie ganz zu überbrücken. In Deutschland ist sie gerade in der Ausländer- und Asylpolitik mit der Einschränkung oder sogar Nichtbeachtung wesentlicher Menschenrechte, vor allem aber von den Artikeln 1 bis 3 GG zur Grundrechtsbindung staatlicher Gewalt, zur Freiheit der Person und der Gleichheit vor dem Gesetz, unübersehbar. Diese Kluft sollte jedoch als normatives Defizit erkannt werden und dazu motivieren, sie so weit wie möglich abzubauen. Andernfalls verkommen die Grundrechte und ihr weltbürgerliches Fundament, "die Würde des Menschen", zur bloßen Rhetorik verlogener politischer Festtagsreden. Trotz der nie ganz aufhebbaren Widersprüche zur politischen Wirklichkeit muss ihr moralisch bindender Charakter wahrgenommen werden. Sie verpflichten den Staat und seine Bürger zur Humanisierung der Politik. (. . .)

Die fatale Wirkung nationaler Überlieferungen auf das Recht und die Rechtsauslegung demokratischer Verfassungsstaaten dokumentiert sich in Deutschland nicht nur im zähen und bislang erfolgreichen politischen Widerstand gegen die Liberalisierung der Zuwanderungs- und Einbürgerungspolitik, sondern gerade auch im Asylrecht der Rechtsprechung und der Asylgewährungspraxis der staatlichen Verwaltung. Die Väter des Grundgesetzes hatten mit Artikel 16 GG - "Politische Flüchtlinge genießen Asylrecht" - einen individuell einklagbaren Anspruch auf Asyl durch die Verfassung geschützt. In der Rechtsprechung Deutschlands wurde der Begriff des politischen Flüchtlings jedoch nur auf Flüchtlinge vor Verfolgung durch staatliche Behörden eingeschränkt. Diese fugenlose Ineinssetzung des Politischen mit dem Staat entspricht den antiliberalen Überlieferungen des kontinentaleuropäischen Rechts. Unter dem Einfluss der vordemokratischen Fürstenherrschaft - in Deutschland nicht zuletzt auch in der Tradition der autoritären Staatsmetaphysik Hegels - hatte die Rechtswissenschaft bei der Unterscheidung von privatem und öffentlichem Recht vor allem den Staat im Blick. Der Staat und nicht die Bürger und ihre Rechte sind somit der Inbegriff des Politischen. Lehrer des öffentlichen Rechts werden daher Staatsrechtler genannt. Sie sind nicht, wie schon Hermann Heller in der Weimarer Republik gegen die damals führenden Koryphäen des öffentlichen Rechts gefordert hatte, Lehrer der Politik, zu der neben dem Staat gerade auch die Bürger und ihre Rechte gehören. Mit der Fixierung des öffentlichen Rechts auf den Staat konnte politische Verfolgung logisch immanent nur für Verfolgung durch staatliche Organe stehen und sich nicht wie in der amerikanischen Rechtstradition generell auf die Verletzung und den mangelnden Schutz elementarer Menschenrechte beziehen.

An der restriktiven Definition politisch legitimer Flucht durch die deutsche Rechtsprechung hat auch die jüngste, im Ergebnis begrüßenswerte Entscheidung des BVG zum Asylrecht von Flüchtlingen aus Afghanistan wenig geändert. Das BVG begründete seine Kritik der bisherigen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte mit der These, in Afghanistan hätten sich trotz fehlender internationaler Anerkennung des afghanischen Staates im Herrschaftsbereich der Taliban staatsähnliche Organe gebildet. Daher seien die von den Taliban verfolgten Afghanen im Gegensatz zur bisherigen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte als politische Flüchtlinge anzuerkennen. Damit bleiben aber auch weiterhin Flüchtlinge aus Staaten mit Bürgerkriegen, in denen es nicht mehr, wie in einigen afrikanischen Staaten (z. B. Somalia ) international anerkannte staatliche oder staatsähnliche Autoritäten gibt, ferner oder oft auch Flüchtlinge, die wegen ihrer Religion oder Abstammung von ihren Mitbürgern verfolgt und dagegen von ihren eigenen nationalen Staatsorganen nicht hinreichend geschützt werden, außerhalb des Rechtsanspruchs auf Asyl. Innerhalb Europas findet sich die Verkürzung der Definition des politischen Flüchtlings auf Verfolgte durch staatliche Instanzen nur noch in der Schweiz und Frankreich. Aber auch hier folgt die Anerkennung von Asyl weit weniger der mit dem menschenrechtlichen Fundament des Grundgesetzes absolut unvereinbaren unmenschlichen Begriffslogik der deutschen Asylverweigerungs- und Abschiebepraxis. Ermessensspielräume für die Einbringung von Menschlichkeit bei der Behandlung des Einzelfalles gibt es in ihr kaum. Sie ist stählern konsequent und duldet keine Ausnahme. Wenn sich, wie in der deutschen Abschiebepraxis, der Rechtsstaat nur noch an der Logik seiner selbst gestrickten Begriffssystematik und nicht an der eigentlichen normativen Prämisse des Rechtsstaates, der Würde des Menschen, oder einfacher ausgedrückt, an schlichter Menschlichkeit orientiert, pervertiert er zwangsläufig zum bürokratisch sklerotisierten Unrechtsstaat

Zuwanderung und Asylgewährung in Deutschland

In einem Entschließungsantrag des Ausschusses des Europäischen Parlaments für Grundfreiheiten und innere Angelegenheiten vom November 1988 heißt es : "Seit einigen Jahren scheinen die Länder der Union (. . .) alles daran zu setzen, um die Asylbewerber davon abzuhalten, nach Europa zu kommen, indem sie insbesondere die Bedingungen für den Zugang zum Flüchtlingsstatus laut Definition des Abkommens von Genf verschärfen und immer mehr Abkommen über die Rücknahme in Länder abschließen, die nicht in jedem Falle als ,sicher' angesehen werden können. Somit kann von einer Verschlechterung der Asylpolitik in Europa gesprochen werden."

Die Ursachen der hier beschriebene Entwicklung sind vielfältiger Natur und unterscheiden sich zum Teil von Land zu Land. Von genereller Bedeutung war in den letzten Jahren jedoch überall die Stagnation der europäischen Wirtschaft und die dadurch verstärkte Rivalität zwischen Einheimischen und Ausländern auf dem Arbeitsmarkt. In Deutschland fallen die wirtschaftlichen und sozialen Kosten der Vereinigung zusätzlich ins Gewicht. Auf diesem Hintergrund haben sich im Meinungsklima Deutschlands die Einstellungen zu Ausländern, Zuwanderung und Asylgewährung seit Mitte der neunziger Jahre tief greifend verändert. Vor allem nach dem Sieg der Union bei der hessischen Landtagswahl und der u. E. falschen Analyse, dass dieser primär durch ihre Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft herbeigeführt worden sei, wurden Forderungen nach einer Liberalisierung der Zuwanderung oder der Asylpolitik in beiden großen politischen Lagern zum Tabuthema. Die Führungen der Parteilager standen dabei wohl auch unter dem Eindruck der politischen Erfolge rechtsradikaler Parteien und ihrer ausländerfeindlichen Polemik in verschiedenen europäischen Nachbarstaaten.

Nach der Niederlage der Union bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen und den negativen Reaktionen der Öffentlichkeit und Wähler auf die Wahlkampfparole des Spitzenkandidaten der Union, Rütgers, "Inder statt Kinder", änderte sich allerdings in den Unionsparteien ihre bisherige schroffe Ablehnung einer aktiven Zuwanderungspolitik. Wie zuvor die Sozialdemokraten in der Rolle der Opposition gegen die Regierung Helmut Kohls, verlangten nunmehr auch prominente Vertreter der Union eine gesetzlich geregelte Zuwanderungspolitik. Dabei wurde jedoch von gewichtigen Stimmen ein Junktim zwischen der Förderung und Regelung von Zuwanderung und der Abschaffung des Individualrechts auf politisches Asyl gefordert.

Die Bundesrepublik müsse gegen die Überflutung durch Asylbewerber, die "uns ausnutzen" (Innenminister Beckstein), geschützt werden. Um Raum für "Zuwanderer zu schaffen, die uns nützen", müsse der bisherige Schutz des individuellen politischen Asylrechts aufgehoben werden. Da für die Änderung des Asylartikels im Grundgesetz die erforderliche Zweidrittelmehrheit des Bundestages nicht zu erreichen war - auch zahlreiche Abgeordnete der Sozialdemokraten und der Union hätten mit Sicherheit dagegen gestimmt -, wurde mit diesem Junktim jedoch de facto eine hohe politische Barriere gegen die angeblich gewünschte "nützliche" Zuwanderung errichtet. Auch Innenminister Otto Schily bekannte sich zu diesem Junktim, obwohl er zuvor selbst in einem Interview des Spiegel eingeräumt hatte, dass die erforderliche Mehrheit für die Änderung des Grundgesetzes nicht zu Stande kommen würde. Daraus ergibt sich, dass das Junktim lediglich taktisch motiviert war. Mit ihm sollten die weitere Zuwanderung und vor allem ein Zuwanderungsgesetz ohne politische Blessuren in der Öffentlichkeit und den eigenen Reihen verhindert werden.

Noch in den neunziger Jahren hatte die Kupierung des politischen Asylrechts durch das Abkommen von Schengen und den neuen Grundgesetzartikel 16 a eine große nationale Debatte ausgelöst. Übergriffe auf Ausländer wurden mit Lichterdemonstrationen von Hundertausenden beantwortet. An Demonstrationen gegen Morde an Ausländern beteiligen sich heute nur noch wenige Menschen. "Für die Würde von Kampfhunden demonstrieren heute weit mehr Menschen als für die Würde des Menschen" (Friedman). Die Öffentlichkeit hat sich inzwischen trotz aller vollmundigen Aktivitäten gegen politischen Rechtsradikalismus an die zahlreichen mörderischen Übergriffe auf Ausländer gewöhnt. Die Volte einiger, die jetzt ein Verbot der NPD fordern, erinnert an den Ruf "haltet den Dieb". Im Kampf um die Vorherrschaft an den Stammtischen haben ihre eigenen Beiträge zur Ausländerfeindlichkeit den jetzt bekämpften politischen Gegner gestärkt.

Die Zustimmung, die die Vorschläge zur Abschaffung des Rechts auf politisches Asyl jetzt in Teilen der Unionsparteien und der Regierungskoalition, ja sogar selbst bei Innenminister Otto Schily fanden, oder die Änderungen im Meinungsklima, die sich in Umfragen in der Zunahme negativer Einstellungen zu Ausländern und Asylgewährung abzeichnen, symbolisieren einen moralischen Tiefpunkt der neuen Berliner Republik. Er verdeutlicht, dass die Pflichten, die sich aus der menschenrechtlichen Substanz des Grundgesetzes und aus der neueren deutschen Geschichte ergeben, heute nicht mehr von jenem breiten politischen Konsens geschützt werden, der noch in der Zeit der Bonner Republik bestand.

Charakteristisch für die Debatte zur Aufhebung des Rechts auf politisches Asyl war zudem die gezielte Desinformation der Öffentlichkeit über die Form und das tatsächliche Ausmaß der angeblichen Überflutung Deutschlands durch Asylbewerber und Asylanten. Die meisten Asylbewerber werden ja nach ihrer vorläufigen Aufnahme in kargen Kasernierungsheimen abgeschoben. Bezogen auf die Zahl seiner Bevölkerung und die Zahl seiner Asylgewährungen steht Deutschland in Europa nicht an erster, sondern nur an achter Stelle. In Zahlen ausgedrückt bedeutet dies eine Anerkennung von 8000 bis 12 000 Flüchtlingen pro Jahr. Für einen wohlhabenden Staat mit 80 Millionen Einwohnern ist dies keine Ruhmestat.

Mit der Polemik des bayrischen Innenministers Günter Beckstein und anderer Unionspolitiker gegen Asylbewerber und Asylanten, "die uns ausnutzen", wurde die bereits vorhandene Fremdenfeindlichkeit weiter angeheizt. Da hunderttausende abgelehnter Asylbewerber, die sich der Abschiebung entzogen, ihr Leben als "Illegale" durch Beschäftigung zu Minilöhnen fristen müssen und inzwischen in verschiedenen Wirtschaftsbereichen ein unentbehrliches Schmiermittel ihrer Profitabilität geworden sind, stellt der Vorwurf des "Ausnutzens" den tatsächlichen Sachverhalt auf den Kopf. Die Illegalen werden als billige Arbeitskräfte zum Vorteil deutscher Unternehmer, deutscher Bauherren und letztlich auch der deutschen Volkswirtschaft "ausgenutzt" und sind in vielen Wirtschaftsbereichen längst zu einem unersetzlichen Schmiermittel der Profitabilität geworden. (. . .)

Zur Verstärkung der Ängste vor Ausländern trug auch immer wieder die wiederholte und gezielte Verbreitung wahrheitswidriger fantastischer Zahlen über den Umfang der Zuwanderung bei. Nach Innenminister Otto Schily war schon 1998 mit jährlich 350 000 Zuwanderern die "Grenze der Belastbarkeit erreicht". Der Minister erwähnte bei diesen Angaben über bloße Einreisen mit keinem Wort die ihm bekannte, weit höhere Abwanderung und dass z. B. 1998, also in dem Jahr, auf das er sich bezog, sogar mehr Ausländer ab- als zugewandert waren. In einem Interview im Spiegel am 12. 1. 2000 unter der Überschrift "Überforderung der Gesellschaft" wurde er vom bayerischen Innenminister Beckstein sogar noch überboten. Beckstein erdichtete Zuwanderungen von jährlich 600 000 bis 1,4 Millionen. Auch er unterschlug dabei, dass nach Abzug der Gruppe der volksdeutschen Aussiedler schon seit einigen Jahren mehr Ausländer ab- als zugewandert waren.

Integration der Zuwanderung: Aneignung und Durchsetzung der Offenheit des demokratischen Verfassungsstaates für kulturellen Pluralismus - die notwendige Debatte über das nationale Selbstverständnis

In der Debatte über die angebliche Flut von Zuwanderern und Asylbewerbern wurde zuletzt der Nachdruck auf die "Integration" der in Deutschland bereits lebenden Ausländer gelegt. Vor weiterer Zuwanderung müssten erst sie einmal integriert werden. Als wichtigste Voraussetzung für die nunmehr gewünschte Integration wurden hierbei - so auch im neuen Einbürgerungsrecht - bessere Kenntnisse der deutschen Sprache gefordert. Sie sind in der Tat für die Teilnahme am politischen Leben und den beruflichen Erfolg wichtig. Ebenso wie materieller oder beruflicher Erfolg verbürgen sie jedoch, wie benachbarte deutschsprachige Länder veranschaulichen, keineswegs eine besonders freundliche Einstellung zu Deutschland und erst recht nicht politische Identifikation mit dem deutschen Staat, also staatsbürgerliche Integration. Dies gilt ebenfalls für die Verleihung der Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung. Auch sie erleichtert politische Identifikation und soziale Integration, ist aber nicht ihre zwangsläufige Folge.

Weit fundamentalere Bedeutung für die soziale und staatsbürgerliche Integration der Zuwanderer und damit auch für eine liberale Asylgewährung haben jedoch das Staatsverständnis der Deutschen selbst und die mit ihm verbundenen Einstellungen zu Ausländern. Die völkische Nation geht von der Vorstellung einer homogenen, für alle verbindlich definierbaren und vor Verunreinigung durch fremde Elemente zu bewahrenden "nationalen" Kultur aus. Solange sich dieses überlieferte völkische Staatsverständnis in den Köpfen hält, bleiben Ausländer von der Nation ausgeschlossen. Gefordert sind daher die geistige und politische Aneignung der Prinzipien des demokratischen Verfassungsstaates. Dieser versteht sich als Staatsbürgernation. Er schützt in seiner Verfassung die Freiheit des religiösen Bekenntnisses und der Weltanschauung - also kulturellen Pluralismus und kulturelle Toleranz.

Diese Akzeptanz des kulturellen Pluralismus der Staatsbürgernation und die Absage an die immer nur fiktiv gewesene kulturelle Homogenität der völkischen Nation sind die eigentliche geistige Voraussetzung für die Aufnahme von Ausländern und eine liberale Asylpolitik. Daher sollte die Debatte über das Asylrecht nicht von der Zuwanderungsdebatte abgekoppelt werden. In beiden Fällen geht es letztlich um die Einstellung zu Ausländern. Die Absage an Zuwanderung jetzt sogar in einem sich schon in naher Zukunft wegen des Geburtendefizits entvölkernden Land gründet letztlich in der Ablehnung von Ausländern und hilft damit den Gegnern des Asylrechts.

Auf dem Hintergrund des immer noch völkisch geprägten nationalen Selbstverständnisses der Deutschen und ihrer daraus erwachsenden Ängste vor Überfremdung "ihrer" Kultur wird die Forderung nach Integration der Ausländer in die deutsche Gesellschaft von den meisten als Assimilation an die Deutschen und ihre kulturellen Überlieferungen verstanden. Damit aber richten sich Erwartungen an die Ausländer, die auch in klassischen Einwanderungsländern, wenn überhaupt, meist nur innerhalb mehrerer Generation erfüllt wurden. Zeitlich kurzfristige Perspektiven und Postulate für Integration im Sinne einer "Einschmelzung" der Ausländer in die einheimische Mehrheit verstärken daher die negativen Einstellungen zu Ausländern und hemmen ihre staatsbürgerliche Integration.

Und was ist der Bezugspunkt für die Integration der Ausländer, was ist das spezifisch Deutsche? Was ist der Inhalt der nunmehr von Minister Günter Beckstein geforderten christlichen deutschen "Leitkultur", in die sich die Ausländer integrieren sollen, bevor sie deutsche Staatsbürger werden dürfen? Wer kann oder darf ihren Inhalt definieren? Der Verfasser wäre glücklich, wenn seine Vorstellungen über eine christliche Leitkultur und ihre Konsequenzen für die Asylpolitik Günter Becksteins maßgeblich wären. Dies ist zu seinem Bedauern nicht der Fall. Wer definiert aber nun die für alle verbindliche Leitkultur? Es gibt dafür im demokratischen Verfassungsstaate glücklicherweise keine staatliche Instanz.

Wer die Integration der Ausländer in die deutsche Kultur fordert, müsste die Frage beantworten können: Was ist ein integrierter Deutscher? Sind Süd- oder Norddeutsche, Katholiken, Protestanten,

säkularisierte und kirchlich-konfessionell nicht gebundene Bürger, zum Islam oder Buddhismus konvertierte Deutsche, Akademiker oder Bauern, Mitglieder der SPD oder der CSU jeweils das Modell für Integration und den integrierten Deutschen? Die Frage nach dem gut integrierten Deutschen und nach den Kriterien für Integration ist im Hinblick auf unsere sich in ihren kulturellen Lebensformen und Stilen ständig weiter pluralisierende Gesellschaft nicht zu beantworten. Ihre verbindliche Beantwortung steht zudem im Gegensatz zu der durch das Grundgesetz geschützten individuellen Freiheit des Kultus, der Freiheit der Weltanschauung und des religiösen Bekenntnisses, dem Fundament des modernen freiheitlichen Verfassungsstaates. Was die deutsche Kultur für die Bürger bedeutet und wie sie von ihnen definiert wird, dürfen sie individuell entscheiden. Auch Deutsche dürfen sich ursprünglich fremden Religionen und Kulten zuwenden, und diese Freiheit liegt im wohlverstandenen langfristigen Eigeninteresse der christlich gebundenen Bevölkerung - d. h. des Schutzes der Freiheit ihres eigenen religiösen Bekenntnisses gegen Bevormundung durch den Staat oder gesellschaftliche Gruppen. Die Kultur Deutschlands ist die Kultur seiner Bürger. Und diese Kultur ihrer Bürger ist nichts Statisches, sie wandelt und pluralisiert sich. Zu einer wie auch immer von Einzelnen, von Minderheiten oder Mehrheiten definierten Leitkultur dürfen sie sich bekennen und sie propagieren. Ihre Verbindlichkeit für die Gesamtheit aber darf im modernen Verfassungsstaat nicht vom Staat und seinen Organen gefordert und erzwungen werden. Kulturelle Freiheit muss allen Bürgern - ohne Ansehung ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Religion oder Weltanschauung - gewährt werden. Dies gilt auch für Zuwanderer fremder Herkunft. Nur dann können sie sich in unseren Staat integrieren und gute Patrioten werden können.

Die bislang immer noch geringe Akzeptanz gesellschaftlichen Pluralismus in Deutschland manifestiert sich auch in der unsinnigen Polemik gegen die Entstehung so genannter Parallelgesellschaften als Folge von Zuwanderung. Eine bunte und zunehmende Vielfalt von oft wenig miteinander verbundenen Parallelgesellschaften oder Lebenswelten ist gerade für moderne Gesellschaften charakteristisch. Sie gab es im Übrigen auch in den angeblich homogenen Gesellschaften Europas der Vergangenheit. Arbeiter, Bauern, Handwerker, Wissenschaftler, Protestanten oder Katholiken, um nur einige ihrer Parallelgesellschaften zu nennen, hatten parallel zu den anderen Gruppen der Gesellschaft ihre jeweils eigenen Lebenswelten.

Der republikanische Verfassungsstaat bleibt immer Programm und ständig neue Aufgabe. Politische Integration im Sinne der Bejahung der politischen und rechtlichen Ordnung des demokratischen Verfassungsstaates ist eine von jeder Generation und auch von allen, welche die formale Staatsbürgerschaft schon besitzen, stets neu zu bewältigende Aufgabe. Politische Integration bleibt immer ein Prozess mit hohen Risiken und möglichen Rückschlägen. Die Voraussetzung für politische Integration aber ist stets die Akzeptanz von kulturellem gesellschaftlichen Pluralismus.

Die Bekämpfung rechtsradikaler Übergriffe auf Ausländer allein durch Polizei, Gerichte und Gesetzgebung reicht nicht aus, um den Nährboden, in dem sie in der Breite und Tiefe unserer Gesellschaft verwurzelt sind, auszutrocknen. Notwendig sind positive Perspektiven: Notwendig sind die Wahrnehmung der möglichen Bereicherung und Vitalisierung unserer politischen Gemeinschaft durch Fremde und Fremdes. Diese Perspektive aber setzt die Aneignung des weltbürgerlichen normativen Fundaments der Staatsbürgernation und die Akzeptanz des von ihm geschützten kulturellen Pluralismus und kultureller Toleranz voraus.

Die Bekämpfung rechtsradikalen Terrors muss zum Signal des Aufbruchs zu einer großen nationalen Debatte über unser Staatsverständnis und dessen Wertefundament werden. Die Aneignung der Staatsbürgernation und ihres kulturellen Pluralismus ist die große Herausforderung für die sich in Zukunft noch weiter pluralisierende deutsche Gesellschaft. Sie ist auch die geistige Vorrausetzung für die Überwindung der europäischen Nationalismen und die politische Einigung eines neuen, nach außen für Zuwanderer und Flüchtlinge offenen Europa.