junge Welt, 25.10.2000 Interview Wie geht es weiter im Verfahren um Öcalan? jW sprach mit Ahmet Avsar, einer der Rechtsanwälte des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan F: Sie gehören zu dem Rechtsanwaltsteam, das den PKK- Vorsitzenden Abdullah Öcalan verteidigt. Öcalan wurde zum Tode verurteilt, Sie haben dagegen Einspruch vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof erhoben. Wie ist der aktuelle Stand des Verfahrens? In der Türkei ist das Verfahren gegen unseren Mandanten juristisch abgeschlossen, die möglichen Rechtswege sind ausgeschöpft. Wir haben uns jetzt an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewandt. Unsere Eingabe besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil bezieht sich auf den Prozeß in der Türkei und auf die unrechtmäßige Verschleppung unseres Mandanten. Der zweite Teil betrifft die internationale Verantwortung für die Verschleppung, speziell die Rolle von Griechenland, Italien, Deutschland, Holland und Rußland. Die damalige italienische Regierung unter D'Alema zum Beispiel verhielt sich zunächst positiv. Aber das weitere Vorgehen Italiens verstieß sowohl gegen internationales als auch gegen nationales italienisches Recht. F: Wird es sich positiv auswirken, daß - nach der Verschleppung - ein römisches Gericht den Asylantrag von Abdullah Öcalan anerkannte und die italienische Regierung dazu verurteilte, die Kosten des Verfahrens zu übernehmen? Lassen Sie mich zunächst noch auf die Verantwortung der anderen Länder eingehen. In der russischen Duma hatten sich 189 Abgeordnete dafür ausgesprochen, daß Öcalan im Land bleiben konnte, ihm sollte Asyl gewährt werden. Der damalige Ministerpräsident Primakow aber setzte sich über diese Entscheidung hinweg, und Öcalan wurde des Landes verwiesen. Öcalan wollte dann nach Holland fliegen und sich in Den Haag einem Tribunal stellen. Man ließ aber nicht zu, daß sein Flugzeug landen konnte. Die holländische Regierung ließ einen Abfangjäger starten. Die Maschine wurde militärisch gezwungen, abzudrehen. Und was Deutschland betrifft, wo ein Haftbefehl gegen Öcalan vorlag, verhielt sich die Bundesregierung sehr widersprüchlich. Um keine Verantwortung in der mit Öcalan verbundenen »Kurdischen rage« übernehmen zu müssen, hob man kurzerhand den Haftbefehl gegen ihn auf. Nun noch zu Ihrer Frage: Italien hat gegen nationales Recht verstoßen, denn es hat nicht verhindert, daß der Führer einer politischen Organisation an das Land ausgeliefert wird, in dem ihm die Todesstrafe droht. Warum sollte sich die nachträgliche Anerkennung des Asyls für Öcalan positiv auswirken? Es hat keinen praktischen Wert, nachdem der Betroffene ausgeliefert wurde. F: Wie ist der Gesundheitszustand Ihres Mandanten? Hat sich seine Haftsituation verbessert? Nein. Während des Prozesses gegen unseren Mandanten, konnten wir ihn vier Stunden pro Woche besuchen. Nach dem Urteil wurde unser Besuchsrecht zunächst auf zwei, schließlich auf eine Stunde pro Woche begrenzt. Er erhält drei Zeitungen, die zensiert werden. Er hat ein Radio, auf dem er nur einen Sender empfangen kann, den staatlichen türkischen Rundfunksender. Wir haben auch wegen der Haftsituation eine Eingabe an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gerichtet. F: Wie ist es mit Briefkontakten von Herrn Öcalan? Kann er Briefe schreiben und empfangen? Es heißt, daß ein Kontakt zwischen ihm und Mumia Abu-Jamal, dem zu Tode verurteilten Journalisten in den USA, besteht? In unserem Büro kommen Tausende Briefe für ihn an. Wir versuchen, sie an ihn weiterzuleiten, aber das gelingt fast nie. Nur ganz wenige Briefe erreichen ihn tatsächlich. Oft hat er nicht einmal Stift oder Papier, um selber schreiben zu können. Was Mumia Abu-Jamal betrifft: Am 14. Juni hat Öcalan uns darum gebeten, Abu-Jamal ausrichten zu lassen, daß er sich auch für ihn einsetzen wird. Sobald er die Gelegenheit hätte, wolle er ihm schreiben. Öcalan will sich im Rahmen einer globalen Kampagne für die Abschaffung der Todesstrafe einsetzen. F: Ist die Wahl von Ahmet Necdet Sezer zum türkischen Staatspräsidenten und sein Verhalten hinsichtlich des bevorstehenden Berichts der EU über die Lage der Demokratie in der Türkei positiv zu bewerten? Und wie verhält sich die Bevölkerung in der Türkei? Wir sagen, die Stunde Null für den Demokratisierungsprozeß in der Türkei begann mit dem 16. Februar 1999, dem Tag der Verschleppung von Öcalan in die Türkei. Heute sagen das fast sämtliche Zeitungskolumnisten in der Türkei. Das zeigt, daß die Entwicklung akzeptiert wird. Ahmet Necdet Sezer stellt sich mutig auf den Boden des Rechts. Seine Wahl zum Staatspräsidenten hat viel mit dem Beginn des Demokratisierungsprozesses in der Türkei zu tun. Wir bewerten die aktuelle Lage so, daß langsam immer mehr Wissenschaftler und Intellektuelle die Phase positiv sehen. Zur Haltung der Bevölkerung in der Türkei muß man wissen, daß die letzten Regierungen immer sehr autoritär und repressiv gegenüber den Menschen aufgetreten sind. Daher konnte sich keine Dynamik von unten her entwickeln. Der Staat stand immer über der Gesellschaft, deshalb gibt es kein Bewußtsein über staatsbürgerliches Verhalten. Bei uns entwickelt sich die Demokratie nicht von unten nach oben, sondern leider, aufgrund der beschriebenen Situation, von oben nach unten. Interview: Karin Leukefeld
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