junge Welt, 26.10.2000 Groteske Realität Berliner Justiz zu »Scheibenwischer«: Kritik an Abschiebepraxis darf drastisch sein Was darf Satire? Diese einst von Kurt Tucholsky aufgeworfene Frage beschäftigte dieser Tage die Berliner Staatsanwaltschaft. Satire darf zumindest, so das Ergebnis der Untersuchungen, mit deutlichen Worten Kritik an der mancherorts besonders drastisch zutage tretenden Abschiebepraxis üben. Folgende Worte des Kabarettisten Dieter Hildebrandt, der nach Ansicht des Wiesbadener Oberbürgermeisters Hildebrand Diehl (CDU) wegen Beleidigung belangt werden sollte, sind für die zuständigen Justizbehörden kein Grund, ein Verfahren einzuleiten. In seinem TV-Programm »Scheibenwischer« sagte er am 12. April dieses Jahres: »Eine kleine Zwischenfrage sei gestattet. Was für Menschen sind eigentlich in der Ausländerbehörde Wiesbaden, die einen Kurden, der schon zweimal halbtot der Folter in der Türkei entkommen ist, Abdulcabbar Akyüz, wieder verhaftet haben.«. Und weiter: »Da frage ich mich, was sind das für Menschen, und dann meinen sie noch, es wäre eine große Heldentat gewesen, jedenfalls tun sie so. Wollen diese Damen und Herren vielleicht nachträglich noch in die SS eintreten oder gehören sie zu den Leuten, die, ohne geprügelt zu werden, immer laut schreien, sie wären stolz darauf Deutsche zu sein, oder sind es gar keine, vielleicht sind es sogar rechtsradikale Türken und man weiß es nicht?« Die Berliner Staatsanwaltschaft lehnte es nun ab, gegen den Kabarettisten vorzugehen. Zwar habe dieser auf die Mitarbeiter der Wiesbadener Ausländerbehörde moralischen Druck ausgeübt, doch müsse Hildebrandt zugute gehalten werden, daß es sich um Äußerungen in einer Kabarett- Sendung gehandelt habe und groteske Darstellungen zu deren Stilmittel gehörten. Im Mittelpunkt seiner Darstellung, so die Argumentation der Staatsanwaltschaft, stehe das Ziel, dem Publikum »die Fassungslosigkeit über die Vollstreckungsmaßnahme der Ausländerbehörde möglichst drastisch und effektvoll zu vermitteln«. Die Satire bzw. das Groteske an Hildebrandts Außerungen bestehe ja gerade darin, daß niemand nachträglich in die SS eintreten könne und auch niemand ernsthaft vermuten werde, daß für die Tätigkeit in der Wiesbadener Ausländerbehörde türkische Staatsangehörige mit einer bestimmten politischen Überzeugung ausgewählt worden seien. Hintergrund des Rechtsstreits ist der bundesweit für Schlagzeilen sorgende Fall der kurdischen Familie Akyüz. Obwohl mehrere Angehörige der insgesamt elfköpfigen Familie in ihrem Herkunftsland Türkei nachweislich Folter und sexuellen Mißhandlungen ausgesetzt waren, wurde im Febraur dieses Jahres der Familienvater aus Deutschland abgeschoben. Trotz vorliegender Gutachten einer Psychologin des Psychosozialen Zentrums für Folteropfer in Frankfurt am Main, die den in Deutschland verbliebenen Familienangehörigen schwerste Traumatisierungen als Folge der erlittenen Mißhandlungen bescheinigte, entschied die Wiesbadener Ausländerbehörde in der Zwischenzeit, daß nach dem Vater auch der Rest der Familie in die Türkei zurück müsse. Der Vater lebt gegenwärtig in der Türkei in wechselnden Verstecken, um seinen Peinigern zu entgehen. Die anderen Familienangehörigen sind aus Angst davor, ebenfalls in das Land abgeschoben zu werden, in dem sie neue Verfolgungen und Übergriffe von Sicherheitskräften befürchten, in Deutschland untergetaucht. Unterdessen kommentierte Oberbürgermeister Diehl die Nachricht aus der Berliner Staatsanwaltschaft, kein Verfahren gegen Hildebrandt einzuleiten, mit den Worten: »Ich akzeptiere es nicht, ich erleide es«. Thomas Klein, Wiesbaden |