Aachener Zeitung, 27.10.2000 Nach Gutachten: Abschiebetermin für Hüseyin Calhan Aachen. Für den Kreis Wesel ist die Entscheidung gefallen: Hüseyin Calhan soll kommenden Dienstag in die Türkei abgeschoben werden. Das vorliegende Gutachten, erstellt vom Leiter des Gesundheitsamtes im Kreis Paderborn, wo die Haftanstalt Büren liegt, in der Hüseyin Calhan einsitzt, sorgt aber für Zweifel. Der ausstellende Arzt sei zwar Amtsarzt, habe auch sozialpsychiatrische Erfahrung, sei aber kein Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Ein solcher aber hätte laut Verwaltungsgerichtsbeschlusses bei der Untersuchung zumindest anwesend sein müssen. Konsequenz für den zuständigen Kreis Wesel, wo Calhan gemeldet ist: Man hat beantragt, das Gutachten dennoch anzuerkennen. Konsequenz für die Calhan-Anwältin Stephanie Boley-Lichtenberg, unterstützt von der Stadt Aachen: In einem Eilantrag soll das Verwaltungsgericht dieses Gutachten für unzureichend erklären und einen Facharzt einschalten lassen. Die AZ fragte nach: Dr. Jürgen Linden: «Wir unterstützen den Vorstoß der Rechtsanwältin. Sie hat eine mündliche Verhandlung beantragt, um festzustellen, dass das Gutachten nicht den Forderungen des Gerichts entspricht. Als wir die Nachricht mittags bekamen, waren wir etwas vor den Kopf gestoßen, haben aber noch einmal bekräftigt, dass die Stadt Aachen zu einer Übernahme von Hüseyin Calhan bereit ist. Außerdem haben wir der Rechtsanwältin alle uns zur Verfügung stehenden Informationen, die Rats-Erklärung des Oberbürgermeisters, die einstimmige Ratsresolution und sämtliche Veröffentlichungen zur Verfügung gestellt. Eine Behörde sollte die Auflagen eines Gerichts beachten.» Stephanie Boley-Lichtenberg (Anwältin von Calhan): «Ich bin eigentlich ganz zuversichtlich, dass wir mit dem Eilantrag Erfolg haben werden. Denn ein entsprechendes Gutachten wäre möglich gewesen, da neben dem Leiter des Gesundheitsamtes auch ein Fachamtsarzt verfügbar gewesen wäre.» Hilde Scheidt (Grüne Ratsfrau, Mitglied der Härtefallkommission): «Ich werde immer skeptischer. Es sieht immer mehr so aus, dass hier ein Exempel statuiert werden soll. Ich begreife nicht mehr, dass die Bemühungen der letzten drei Wochen nicht einmal zu einer Duldung geführt haben, bis die seelische Traumatisierung von Calhan geklärt ist. Und er ist nicht nur im Hungerstreik gewesen, als ich ihn besucht habe, sondern er war auch sehr depressiv. Was geschieht eigentlich mit Menschen, die keine solche Lobby haben? Ich bin erstaunt, wie hart diese Maschine ist.» Andrea Genten (Flüchtlingsbeauftragte beim Bistum): «Dass wir gegen Betonpfeiler laufen, sind wir gewöhnt. Aber so viele Hürden sind unglaublich. Innenminister Fritz Behrens hat erklärt, dass es bei Mitgliedern des Wanderkirchenasyls keine Einzelfallprüfung mehr geben soll. Aber diese Gangart ist sehr hart. Mittlerweile stellt sich die Frage der politischen Verantwortung. Ich befürchte für Hüseyin Calhan eine erhebliche weitere Traumatisierung. Er soll in ein Land abgeschoben werden, in dem er schon einmal gefoltert worden ist. Es sind allein im letzten Jahr 19 und in diesem Jahr bisher 13 Fälle dokumentiert und veröffentlicht, wo Kurden nach der Abschiebung von Deutschland in die Türkei in die Folterkeller gewandert sind, nachdem die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit nachgelassen hat. Deshalb beruhigt mich auch die Nachricht von der Freilassung des am letzten Dienstag abgeschobenen Mehmet Kilic nicht wirklich. Und wer sagt, dass sich Calhan nichts antut...» Gerhard Diefenbach (Aachener Friedenspreis): «Wir haben heute ein Fax an Ministerpräsident Wolfgang Clement, Bundestagspräsident Wolfgang Thierse und andere Politiker geschickt. Eine Rückmeldung aus der Staatskanzlei haben wir, aber noch keine Antwort. Es ist ein linker Vorgang, ein Gutachten erstellen zu lassen, das den Anforderungen nicht genügt, um es dann im Nachhinein anerkennen zu lassen. Mich bedrückt die Gnadenlosigkeit dieses Handels. Eines ist klar, ein solches Asylrecht darf nicht bleiben. Wenn der Ministerpräsident öffentlich erklärt, dass Fremde Freunde seien, und dann im Land so verfahren wird wie hier, müssen sich Rechtsradikale einfach bestärkt fühlen.» Dr. Herbert Kaefer (Pfarrer an St. Germanus): «Ich bin erschüttert und ich bin empört. Politiker loben das Handeln der Bürger gegen Rechts, fordern auf, es ernstzunehmen. Sie loben den Mut vieler Bürger und haben ihn selber nicht. Ich habe den Eindruck, dass es an gutem Willen bei den Ausländerbehörden der Kreise Wesel und Paderborn fehlt - genauso beim Innenministerium. Und es fehlt an einem kleinen bisschen Menschlichkeit.» Markus Reissen (Bistums-Regionalstelle Düren): «Es ist empörend, dass der Kreis Wesel sich bisher auf die formaljuristischen Aspekte zurückgezogen hat und jetzt selber aktiv wird. Hier wird mit einem Menschenleben unverantwortlich umgegangen. Ich kann nicht verstehen, dass ein Amt so die Entscheidung eines Gerichtes missachtet.» Hans-Peter Bruckhoff (Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises): «Für mich stellen sich drei Fragen. Erstens: Wie kann es sein, dass mir und anderen Hüseyin Calhan bei Besuchen von Folter, Bedrohung und Gefährdung berichtet und sich nichts davon in den offiziellen Akten wiederfindet? Zweitens: Ist die Praxis von Asylverfahren und ihren Folgen individualisiert genug und wird das Verfahren professionell genug begleitet, um einem Menschen wie Hüseyin Calhan gerecht zu werden? Drittens: Wo ist Professionalität zu erkennen, wenn die Öffentlichkeit mit einem Katz-und-Maus-Spiel hingehalten wird und nicht einmal ein gerichtlich verlangtes Gutachten in entsprechender Form erstellt wird? Mein Anliegen - und das der Christen - ist es, die Möglichkeiten unseres Rechtsstaates auszuschöpfen - kritisch und widersprüchlich, aber auf keinen Fall radikalisierend und immer gewaltfrei.» Der Sprecher des Kreises Wesel, Gerhard Patzelt, möchte keine weitere Stellungnahme abgeben, der Vorsitzende der dortigen SPD-Kreistagsfraktion, Günter Crefeld, allerdings mahnt die wiederholt ins Gerede gekommene Ausländerbehörde seines Kreises, nach Möglichkeiten zu suchen, sensibler mit solchen Fällen umzugehen. Währenddessen hat die Weseler Gruppe von Amnesty International umfangreiche Adressenlisten mit einem Gnadengesuch an den Ministerpräsidenten nach Düsseldorf geschickt. Peter Sellung |