Süddeutsche Zeitung, 30.10.2000 Arafat schließt Ende der Gewalt aus Fronten im Nahost-Konflikt verhärtet "Aufstand geht weiter, bis palästinensische Flagge über Jerusalem weht" / Barak: Notstandsregierung fast sicher / Von Heiko Flottau Ramallah - Die Konfliktparteien im Nahen Osten haben sich am Wochenende unversöhnlich gezeigt. PLO-Präsident Jassir Arafat sagte, die Intifada gehe weiter, bis Jerusalem die Hauptstadt eines palästinensischen Staates sei. Bundeskanzler Gerhard Schröder zeigte sich bei seiner Nahost-Reise "schockiert" über das Ausmaß des Konflikts. Am Wochenende starben nach Straßenschlachten im Gazastreifen und im Westjordanland fünf Palästinenser und ein Israeli. Israels Premier Ehud Barak erklärte, er stehe kurz vor einer Notstandsregierung mit dem rechtskonservativen Likud-Block Ariel Scharons. "Die Unruhen gehen solange weiter, bis ein palästinensisches Mädchen oder ein Junge die palästinensische Flagge über Jerusalem, der Hauptstadt Palästinas, hissen wird", erklärte Arafat in Gaza. Der ägyptischen Zeitung Al-Ahram sagte er, die von Barak empfohlene Trennung zwischen Israel und den Palästinensergebieten dürfe sich nicht nur auf den wirtschaftlichen Bereich beziehen. Sie müsse eine staatliche Trennung sein, die auf den Grenzen vor dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 zu beruhen habe. Barak hatte zuvor klargemacht, er werde erst dann wieder über Frieden verhandeln, wenn die Gewalt eingedämmt und die Vereinbarungen des Gipfeltreffens von Scharm el-Scheich verwirklicht seien. Dort hatten Barak und Arafat unter anderem eine Waffenruhe vereinbart. Bundeskanzler Gerhard Schröder rief zu einem raschen Ende der Gewalt und zur Rückkehr an den Verhandlungstisch auf. In Kairo bat er die ägyptische Regierung, weiterhin engagiert als Vermittler zu agieren und "sich im arabischen Lager für Augenmaß und Kompromiss einzusetzen". Nach einem Gespräch mit dem Generalsekretär der Arabischen Liga, Esmat Abdel Meguid, sagte Schröder, dieser wünsche auch ein "stärkeres Engagement der Europäer". Schröder zeigte sich "schockiert über das Leiden und die Opfer in der Region ". Clinton ist frustriert Auch US-Präsident Bill Clinton sagte, er sei sehr "frustriert". Die jüngsten Zusammenstöße nannte er "herzzerreißend". Clinton erklärte, er komme praktisch nicht mehr zu anderen außenpolitischen Fragen, da er sich fast nur noch mit dem Nahen Osten beschäftige. Er telefoniere immer wieder mit Barak und Arafat, um sie zu einer Umsetzung der Vereinbarungen des Gipfeltreffens von Scharm el-Scheich zu überreden. Barak setzte seine Bemühungen um eine Regierung der nationalen Einheit fort. "Wir sind näher dran als noch vor einer Woche", sagte er. Seine Mitte-Links-Regierung werde ihre Friedensbemühungen aber auch in einer Partnerschaft mit dem Likud nicht aufgeben. In den Palästinensergebieten protestierten Tausende gegen die israelische Besatzung. Besonders in Ramallah und in Gaza kam es zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und israelischen Soldaten. Am Stadtrand von Ramallah lieferten sich die beiden Konfliktparteien nach dem Begräbnis eines Palästinensers eine mehrstündige Schlacht. Im Stadtzentrum von Ramallah wurde ein Israeli getötet. Er wies mehrere Einschusswunden auf, die Leiche war verkohlt. Nach palästinensischer Darstellung war der Mann aus einer der umliegenden Siedlungen in die Stadt gekommen; nach einer anderen Version war er ein bekannter Drogenhändler. Die Israelis sprachen von einem "nationalistischen" Lynchmord. Fünf Palästinenser erlagen am Wochenende ihren Verletzungen. An der Grenze zum Libanon wurde eine israelische Militärpatrouille beschossen. Der Polizeichef Ramallahs, Kamal Scheich, sagte der Süddeutschen Zeitung, er tue alles, um die Demonstranten zu schützen und um junge Menschen von den Unruhen fern zu halten. Seine Behörde habe die Israelis im Rahmen des israelisch-palästinensischen Sicherheitskomitees gebeten, ihre Soldaten ein paar hundert Meter zurückzuziehen, damit sie von den Steinewerfern nicht getroffen würden. Es sei das gute Recht der Bürger von Ramallah, ihren Protest gegen die israelische Besatzung auszudrücken. "Wir versuchen, unsere Verluste so klein wie möglich zu halten. Wir sind aber überzeugt davon, dass die Israelis uns so viele Verluste wie möglich beibringen wollen", sagte der Polizeichef. Das "Politische Koordinierungskomitee" der Intifada teilte mit, man habe Flugblätter verteilt, in denen Jugendliche unter 16 Jahren aufgefordert würden, nicht an der Frontlinie zu kämpfen. |