Der Bund (CH), 28.10.2000 DAS AKTUELLE BUCH Ankaras Hypothek WALTER LÜTHI Seit Jahren befasst sich Hans-Lukas Kieser mit der Situation im Ostanatolien des 19. und 20. Jahrhunderts. Dabei verzahnt er das Schicksal des armenischen Volkes, die ausländischen Missionen und die Kurden-Frage zu einer akkuraten Gesamtsicht. Die intensive Forschungsarbeit Kiesers, die in vielen Belangen das bisherige, oft von türkischer Propaganda beeinflusste Geschichtsbild korrigiert, mündete in eine umfangreiche Dissertation. Sie liegt nun unter dem Titel «Der verpasste Friede, Mission, Ethnie und Staat in den Ostprovinzen der Türkei 1839-1938» in Buchform vor: Ein wichtiges Werk, das nichts beschönigt und die Endphase des Osmanischen Reiches bis zur Entstehung der modernen Türkei facettenreich darstellt. Kiesers kritische Arbeit ist von höchster Aktualität - angesichts der Kurdenpolitik Ankaras und der Verleugnung des Genozids an den Armeniern (1915/16) durch die offizielle Türkei heute. Diese steht zwar an der Schwelle zur EU, ist aber nach wie vor nicht bereit, ihrer kurdischen Minderheit eine gewisse Autonomie einzuräumen. Wissensvermittler Ausgangspunkt seiner Untersuchungen der komplexen Verhältnisse in Anatolien sind die protestantischen Missionen, vor allem jene der Amerikaner. Sie waren fast während eines Jahrhunderts in dieser damaligen «Terra incognita» tätig. Die Missionare wurden zu Wissensvermittlern und diplomatischen Mitspielern, zu Zeugen der Gräueltaten und Chronisten einer tragischen Entwicklung, an der die damaligen europäischen Mächte ebenso schuldig waren wie Sultane, Jungtürken und Atatürk. Im Gegensatz zur bis heute gängigen türkischen Auffassung macht Kieser in seiner Untersuchung klar, dass die Missionare keine «Agenten» des Imperialismus waren und sie die Armenier nicht zum Nationalismus aufstachelten. Stets traten sie für Autonomie und Religionsfreiheit ein. Sie waren «Ferment der Veränderung» und ermutigten die Minderheiten zu «emanzipatorischem Handeln». Sieg des Zentralismus Das damalige Anatolien war alles andere als einheitlich: Sunnitische und alevitische Kurden, Minderheiten der Ostkirche und die Armenier bildeten eine ethnisch-religiös zerklüftete Gesellschaft. Sie ist im Lauf des 19. Jahrhunderts unter Sultan Abdulhamid, danach unter den Jungtürken und schliesslich unter Atatürk auf «darwinistisch-nationalistische» Weise vereinheitlicht worden: Nach ersten Pogromen gegen die Armenier und ihrer grausamen Vertreibung wurden die Aleviten, eine von Geheimnissen umrankte schiitische Gemeinschaft, unterworfen und die sunnitischen Kurden zu «Bergtürken» erklärt. Der Zentralismus, der mit den Reformen Mitte des 19. Jahrhunderts eingesetzt und die Macht der kurdischen Stämme gebrochen hatte, trug den Sieg davon: Die kurze Epoche des Osmanismus, in dem auch die christlichen Minderheiten ihren Platz gefunden hätten, wurde abgelöst durch ein ausschliesslich sunnitisches Reichsverständnis unter Abdulhamid, und das wiederum wurde von Atatürk säkularisiert: Die Türkei wurde ins Korsett des Einheitsstaats gepresst. 1938, mit der Niederschlagung des letzten Kurdenaufstands, war die «Binneneroberung Anatoliens» abgeschlossen. Mit dem Vertrag von Lausanne (1923) wurden jegliche Autonomieansätze für die sunnitischen und alevitischen Kurden zerstört, und der Völkermord an den Armeniern wurde international verdrängt. Dem Urteil Kiesers ist - angesichts der heutigen Situation der Kurden - nichts beizufügen: Der Vertrag von Lausanne wurde «zur schwersten Hypothek für die Republik Türkei». Hans-Lukas Kieser: Der verpasste Friede Mission, Ethnie und Staat in den Ostprovinzen der Türkei 1839-1938. Chronos, Zürich, 2000. 540 S. Fr. 68.-.
|