junge Welt, 1.11.2000 »Nach einem Stein gebückt« Palästinensische Ärztevereinigung wirft Israel »Todesschußpolitik« vor. Über 5 000 Verletzte Der israelisch-palästinensische Konflikt ist in eine neue Phase eingetreten. Nachdem die israelische Armee nach eigenen Angaben bisher nur auf palästinensische Angriffe reagiert hat, geht sie nun in die Offensive. Verdeckte Elite-Einheiten sollen in den besetzten Gebieten Palästinenser aufspüren, die der Teilnahme an militanten Demonstrationen und bewaffneten Angriffen gegen die Besatzungsarmee verdächtigt werden. Israel will so vor allem auch Anschläge gegen israelische Ziele jenseits der Grünen Linie, der Waffenstillstandslinie von 1967, unterbinden. Derweil hat sich nach Angaben von Mustafa Barghouti, Arzt und Präsident der unabhängigen Palästinensischen Union medizinischer und Wohlfahrtskomitees, die Zahl der Toten der Auseinandersetzungen auf 152 erhöht, 144 davon sind Palästinenser. Er wandte sich gegen die »israelische Propaganda«, die hohe Zahl der toten Kinder resultiere daraus, daß die Palästinenser die Jungen an die Front schickten. Barghouti unterstrich am Montag, bei den Auseinandersetzungen handele es sich um einen Volksaufstand. Israel warf er die Verschleierung seiner »Todesschußpolitik« vor. 95 Prozent der Toten seien bei Demonstrationen erschossen worden, bei denen keine Schußwaffen gegen die israelische Armee zum Einsatz kamen. Rund die Hälfte der Opfer sei durch Kopf- oder Nackenschüsse zu Tode gekommen, die andere Hälfte durch Treffer im Oberkörperbereich. Ein israelischer Armeesprecher kommentierte die Anschuldigungen sarkastisch mit der These, daß »die sich wohl gerade nach einem Stein gebückt« hätten. Von den bisher etwa 5 000 verletzten Palästinensern, so Barghouti weiter, werden rund 1 000 mit bleibenden Behinderungen leben müssen. Nach der Ermordung zweier Is raelis haben Hubschrauber in der Nacht zu Dienstag erneut palästinensische Ziele bombardiert. Bei diesen Angriffen auf Gebäude der Polizei und solche, die der bewaffneten Palästinensergruppe Tanzim zugerechnet werden, sind in Khan Younis im Gazastreifen, in Ramallah und Nablus in der Westbank nach palästinensischen Angaben fünf Menschen verletzt worden. Unterdessen trat am Montag das israelische Parlament, die Knesset, zu seiner ersten Sitzung nach der Sommerpause zusammen. Allen Unkenrufen zum Trotz sitzt Ministerpräsident Ehud Barak noch fest im Sattel. Zwar wurde er von den Vertretern der beiden arabischen Parteien für die Erschießung von 13 palästinensischen Israelis hart kritisiert, die rechte Opposition der national-religiösen Schas- Partei sicherte Barak jedoch ihre Unterstützung zu, nachdem ihr die lange erwarteten mehreren Millionen Mark zur Sanierung ihres Bildungssystems zugesagt wurden. Außerdem hat Likud-Führer Ariel Scharon seine Bereitschaft zur Bildung einer nationalen Notstandsregierung unter der Voraussetzung bekundet, ein gemeinsames Vorgehen im Falle einer einseitigen Staatsausrufung der Palästinenser zu vereinbaren. Im Schatten der kriegsartigen Auseinandersetzungen zeichnet sich jedoch das gegenteilige Szenario ab: die einseitige Grenzfestlegung durch Israel. Die Armee hat bereits in der vergangenen Woche den Gazastreifen durch Blockaden in drei voneinander isolierte Kantone geteilt, die von den palästinensischen Bewohnern nicht mehr verlassen werden dürfen. Wie im Norden der Westbank werden auch im Gazastreifen seit Anfang Oktober palästinensische Felder gerodet und militärisch gesichert, einige Fabriken wurden zerstört. Und die Stadtverwaltung Jerusalems will am heutigen Mittwoch über die Ausweitung der jüdischen Siedlungen im Ostteil der Stadt beraten. Die Enteignung palästinensischer Gebiete und die Vergrößerung der Siedlungen zeigen, welche Art Frieden Israel mit den Palästinensern im Auge hat. Peter Schäfer |