junge Welt, 01.11.2000 Alles nur leeres Geschwätz Nach der Großdemo in Düsseldorf: Sprecher des Wanderkirchenasyls in die Türkei abgeschoben Einen Aufstand der Anständigen hatte Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Wolfgang Clement erst am Sonnabend bei der Düsseldorfer Großdemonstration gegen Rechtsextremismus angemahnt. Schon am Dienstag erwies sich, daß diese Worte nur leeres Geschwätz waren. Ungeachtet von Prominenten-Protesten und einer zwölfstündigen Mahnwache vor dem Abschiebeknast in Büren wurde der Kurde Hüseyin Calhan gestern in die Türkei abgeschoben. »Das Flugzeug ist in der Luft«, bestätigte mittags ein Sprecher des Bundesgrenzschutzes gegenüber jW. Die Maschine der rumänischen Gesellschaft Tarom mit rund 50 abgelehnten Asylbewerbern an Bord habe um 11.36 Uhr vom Düsseldorfer Flughafen abgehoben. Die Ankunft in Istanbul wurde nach einem Zwischenstopp in Bukarest für den frühen Abend erwartet. Nach Angaben des BGS-Sprechers befand sich auch der nordrhein-westfälische Landtagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen, Rainer Priggen, mit einer Sondergenehmigung des Düsseldorfer Innenministeriums an Bord. An der Mahnwache in Büren unter dem Motto »Wir stellen uns quer« beteiligten sich von Montag abend bis gestern vormittag nach Angaben der Flüchtlingsbeauftragten im Bistum Aachen, Andrea Genten, rund 200 Menschen. Auch mehrere Rechtsanwälte, Pfarrer und die PDS-Politiker Ulla Lötzer und Andreas Müller verbrachten die Nacht auf der Straße in Sichtweite des Abschiebeknastes. Den Aufruf zu der Protestaktion »Wir stellen uns uer« hatten zahlreiche Initiativen und Einzelpersonen unterzeichnet, unter ihnen auch die Schriftsteller Günter Grass und Günter Wallraff, die Theologin Dorothee Sölle sowie Landes- und Bundespolitiker von PDS, SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Außerdem hatten sechs PDS- und Grünen- Bundestagsabgeordnete in einem Brief an Ministerpräsident Wolfgang Clement gegen die Abschiebung Calhans protestiert. Wer glaubhaft gegen Rechtsextremismus eintreten wolle, dürfe nicht in die Folter abschieben, erklärten sie. Eine Landesregierung, die ihre Bürger zu mehr Zivilcourage aufrufe, sei unglaubwürdig, wenn sie sich im Umgang mit Flüchtlingen über Zivilcourage hinwegsetze, hieß es in dem Schreiben. Durch Rufe und Sprechchöre habe man Kontakt zu einigen der Häftlinge aufnehmen können, sagte Genten junge Welt. Diese hätten die Grüße durch Schläge an die Fenstergitter ihrer Zellen erwidert. In Deutschlands größtem Abschiebegefängnis, einer umgebauten Kaserne, werden bis zu 600 Flüchtlinge oft monatelang eingesperrt. Die Inhaftierung dient alleine der Sicherung ihrer Abschiebung. In Erwartung möglicher Sitzblockaden vor dem Bürener Abschiebeknast waren Calhan und die anderen Abschiebehäftlinge bereits am Vortag zum Düsseldorfer Flughafen verfrachtet worden. »Dies haben wir leider zu spät mitbekommen«, bedauerte Hermann-Josef Diepers vom Aachener Flüchtlingsplenum. Der 27jährige Hüseyin Calhan wurde Flüchtlingsorganisationen zufolge wegen seines politischen Engagements in der Türkei mehrfach festgenommen und gefoltert. 1995 floh er nach Deutschland. Seine Asylanträge wurden abgelehnt, letzte Zuflucht fand Calhan im nordrhein- westfälischen Wanderkirchenasyl. Calhan wurde Ende September in Aachen festgenommen und sitzt seitdem in Abschiebehaft. Trotz mehrerer anderslautender psychiatrischer Gutachten bescheinigte ihm ein Amtsarzt die Reisefähigkeit. Als einer der Sprecher des Wanderkirchenasyls, das mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet wurde, trat Calhan immer wieder für ein Bleiberecht von Kurden aus der Türkei und eine friedliche Lösung des Kurdistan-Konfliktes ein. Sein Name dürfte den türkischen Behörden deshalb bekannter denn je sein. Dies weiß natürlich auch die Düsseldorfer Landesregierung. Bereits vor einer Woche hatte sie mit Mehmet Kilic einen anderen kurdischen Aktivisten aus dem Wanderkirchenasyl abschieben lassen. Reimar Paul |