Frankfurter Rundschau, 1.11.2000 Wenn Fremde etwas wert wären . . . Ein Vorschlag zu einer zivilgesellschaftlichen Reform des Asylverfahrens / Von Sibylle Kalupner und Werner Kogge Asyl und Zuwanderung sind zu einem der beherrschenden innenpolitischen Themen geworden. In diese Debatte greifen Sibylle Kalupner und Werner Kogge mit einem bemerkens- und bedenkenswerten Vorschlag ein. Der Beitrag der Berliner Soziologin Kalupner, die derzeit über die "Grenzen der Individualisierung" promoviert, und des Philosophen Kogge, der in Bielefeld über die "Grenzen des Verstehens" promoviert, ist die von den Autoren stark gekürzte Fassung eines im Heft 3/2000 des Leviathan, Zeitschrift für Sozialwissenschaft (Berlin), erschienenen Aufsatzes. Die Debatten um Fremdenfeindlichkeit und rechtsextreme Gewalt haben in den letzten Monaten eine neue Qualität gewonnen. Konnten rassistische Übergriffe bis vor kurzem noch als Randerscheinung beiseite geschoben werden, so setzt sich nun auf breiter Linie die Einsicht durch, dass ihre Ursachen und Auswirkungen die Gesellschaft als Ganzes betreffen. Die Bekämpfung müsse daher tiefer ansetzen. Alle repressiven Maßnahmen und Verbote blieben, so ist zu lesen, wirkungslos, wenn sich das "gesellschaftliche Klima" nicht ändere. Angesichts dieser Diagnose reiche es nicht aus, wenn lediglich Politiker, Juristen und Polizisten dem Thema erhöhte Aufmerksamkeit widmen; vielmehr sei es Gebot der Stunde, dass die Menschen in ihren alltäglichen Aktivitäten und Erfahrungen "wieder hinsehen", Verantwortung übernehmen, die demokratischen und liberalen Grundwerte verteidigen. Die "zivile Bürgergesellschaft", im März noch von Gerhard Schröder als Ziel zukünftiger politischer Entwicklung ausersehen, soll nun schon dafür bürgen, fremdenfeindliche Gewalt an ihren Wurzeln und "nachhaltig" zu bekämpfen. (. . .) Die Zivilgesellschaft, in der die Bürgerinnen und Bürger engagiert und verantwortungsbewusst die Werte ihrer Gesellschaft verteidigen und weiterbilden, lässt sich offenbar weder herbeireden noch erzwingen. Auch die in den letzten Monaten vermehrt ins Leben gerufenen Aktionsbündnisse und Meinungskampagnen, in denen Repräsentanten hoher Positionen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu einem entschlossenen Auftreten gegen fremdenfeindliche Gewalt aufrufen, dürften nur schwer in jene ungleich alltäglicheren Erfahrungsbereiche übersetzbar sein, in denen der Mangel zivilgesellschaftlichen Verantwortungsbewusstseins allenthalben beklagt wird. Der Forderung zivilgesellschaftlichen Engagements gegen Fremdenfeindlichkeit mangelt es, so überzeugend die ihr zu Grunde liegende Idee ist, an gesellschaftspolitischer Konkretion. Solange ungeklärt bleibt, was Bürgerengagement im eigentlichen Feld politischen Handelns bedeutet, läuft der allgegenwärtige Appell an die Zivilgesellschaft Gefahr, über die Wirkung von Sonntagsreden nicht hinauszukommen. In den folgenden Überlegungen soll die Aufmerksamkeit auf ein politisches Feld gelenkt werden, in dem die Aufnahme von Fremden gewissermaßen tagtäglich konkrete Realität wird. Die gegenwärtige rechtsförmige Verfahrensweise der Verteilung und Unterbringung von Asylbewerbern lässt sich, so soll gezeigt werden, in einer Weise reformieren, die jenes zivilgesellschaftliche Engagement fördert, das angesichts der ungemindert hohen Bereitschaft zu fremdenfeindlicher Gewalt in weiten Bevölkerungskreisen dringend benötigt wird. Betrachten wir zunächst an einem konkreten Fall, wie sich gegenwärtig die Unterbringung von Fremden vor Ort, in der Perspektive der Bewohner eines südbrandenburgischen Dorfes darstellt. (Die Beschreibung folgt dem Bericht "Kein Grußwort vom Bürgermeister" des Berliner Tagesspiegel vom 16. 7. 1999.) Die Geschichte der Aufnahme von Fremden in diesem Dorf geht auf das Jahr 1992 zurück. Damals wurden in der Gemeinde Spätaussiedler untergebracht. Glücklich war man nicht über diesen Zuzug, doch von Seiten der Behörden war betont worden, dass es sich bei Spätaussiedlern um Deutsche handele, dass der Fall also "nicht mit Asylbewerbern zu vergleichen" sei. Zeitweise lebten bis zu 130 dieser halbherzig geduldeten Fremden in dem Dorf von etwa 550 Einwohnern, doch in den letzten Jahren zogen mehr weg als nach, und so sank die Zahl deutlich. 1998 wurde im Kreistag der Beschluss gefällt, die Hälfte von 300 Asylbewerbern, für die man eine neue Unterkunft benötigte, in den frei gewordenen Räumen der Gemeinde unterzubringen. Die Einwohner reagierten aufgebracht. Sie protestierten im Kreistag, engagierten einen Anwalt und planten eine Demonstration. Sogar der Verweis auf "vorhandenes rechtsradikales Potenzial", das durch die Unterbringung der Fremden ein "Einsatzgebiet" erhalte, fehlte nicht. Doch der Beschluss wurde, leicht abgeschwächt, umgesetzt: 110 Asylbewerber zogen im Juli 1999 in das Dorf. Nun sei die Dorfgemeinschaft kaputt, meinte die Frau des Bürgermeisters. Eine zweite Perspektive kommt zum Vorschein, wenn wir die Geschichte nicht mehr aus der Perspektive der lokalen Wirklichkeit, sozusagen von unten, sondern von oben betrachten. Als oberste Instanz - geht man vom Status quo aus - stehen da die im Grundgesetz verankerten Normen des Asylrechts und der Genfer Flüchtlingskonvention. Diese Normen werden in Gesetzen und Verfahren umgesetzt. Konkret sah das bis in die siebziger Jahre so aus, dass Asylbewerber in einem zentralen Sammellager in Zirndorf untergebracht wurden. Mit dem Anstieg der Bewerberzahlen wurde dieses Verfahren unpraktikabel, so dass man begann, die Bewerber gemäß eines festgelegten Verteilungsschlüssels auf die Bundesländer zu verteilen. Die Länder wiederum verteilen nach intern festgelegten Verfahren die Asylbewerber auf die Landkreise und schließlich auf die Gemeinden. Deutlich ist der Stufenbau dieser Regelung zu erkennen: von der prinzipiellen Norm geht der Weg herab über die zentralen und mittleren Verwaltungsinstanzen bis zu den Kommunen und Stadtteilen. Abgeleitet von einer übergeordneten Norm entstehen Verpflichtungen und Verfahren auf einer nächstniederen Ebene, die wiederum eine Ebene tiefer Verfahren zur Umsetzung der daraus erwachsenden Aufgaben nach sich ziehen und sofort, bis schließlich vor Ort bestimmte Menschen in Nachbarschaft zu bestimmten anderen Menschen untergebracht werden. Dieser deduktive Weg hat den wichtigen Vorteil, dass er die effektive Umsetzung einer geltenden Norm garantieren kann. Weniger vorteilhaft sieht dieser Vorgang aus, wenn man die beiden Geschichten, die von unten und die von oben, zueinander führt und wie zwei Folien aufeinander legt. Die für das Verfahren von oben entscheidenden Punkte, dass es ein Gesetz gibt und damit verbunden ein Recht, dass dieses Recht umgesetzt werden muss und dass dies effektiv geschehen muss, da die Asylbewerber schnellstmöglich eine menschenwürdige Unterkunft benötigen, all dies taucht in der Geschichte von unten gar nicht auf. Umgekehrt sind die Verhältnisse vor Ort in der Geschichte von oben in keiner Weise berücksichtigt. Die Quoten und Bescheide enthalten nichts darüber, wie die sozialen Verhältnisse vor Ort beschaffen sind, ob der Zeitpunkt für eine Aufnahme von Fremden günstig ist, wie sich Alltag und Zusammenleben in einem konkreten Umfeld verändern werden. Wie immer, wenn zwei zwar miteinander zu tun haben, der eine aber in dem einen Interpretationsrahmen, der andere in einem anderen agiert, versteht auch hier keine der beiden Parteien, was die andere in Wirklichkeit tut. Was für die einen ein neutraler Verwaltungsakt ist, ist für die anderen bedeutungsreiche Kommunikation. Für die Bewohner der betroffenen Gemeinde ist der behördliche Verwaltungsakt ein Akt in ihrer Beziehung zum Staat. Für sie ist es eine Entscheidung "derer da oben", die - so ihr Eindruck - "mit uns kleinen Leuten machen was sie wollen". Der Staat wird als ein Gegenüber erlebt, als eine etwas diffuse, aber in vielerlei Hinsicht wirkliche Instanz. Von ihm kommen die Wohngeld-, Steuer- und Rentenbescheide, er richtet die Schulen ein und die Bushaltestellen. Es ist ein spannungsreiches Verhältnis zu diesem Gegenüber: Vieles kommt von ihm, vieles fordert es, nie ist der Handel ganz klar, wem es schlecht geht, fühlt sich leicht von ihm im Stich gelassen und betrogen. In hilflosen Versuchen entladen sich die Aggressionen in der Zerstörung von Dingen. Doch die eingetretene Scheibe des neuen Wartehäuschens trifft den Staat nicht, das Gegenüber entzieht sich und bleibt omnipräsent zugleich, unangreifbar. Was bedeutet in diesem Interpretationsrahmen die Unterbringung von Asylbewerbern in einer Gemeinde? Im schlimmsten, aber vermutlich nicht einmal außergewöhnlichen Fall wird der staatliche Akt als abwertendes Urteil rezipiert; als sage er: "Was ihr denkt und was ihr wollt, interessiert uns nicht. Ihr seid nicht wert, dass wir eure Belange beachten. Indem wir euch diese Menschen, die am untersten Ende der sozialen Stufenleiter stehen, zugesellen, zeigen wir euch, dass wir euch an eben dieser Position sehen." Das für die Asylbewerber besonders Perfide an dieser Konstellation ist, dass sich die gegebenen Beziehungen zwischen Staat und Bürger in einer fatalen Weise fortsetzen und erweitern. Indem der Staat die Asylbewerber den Bewohnern einer Kommune als Nachbarn zuweist, tritt er nicht in Form einer Gabe in Erscheinung, sondern mit einem Anspruch, einer Forderung. Zugleich tritt er nicht als Staatsgewalt auf, sondern in der Form wehrloser Menschen. Jede bereits bestehende oder durch den als Willkür aufgefassten Verwaltungsakt entstehende, gegen den Staat gerichtete Aggression findet in diesen Menschen einen nahezu schutzlosen Angriffspunkt. Bevor Vorschläge zu einer Reform des politischen Prozesses der Verteilung von Asylbewerbern entwickelt werden, die dem Appell an die Zivilgesellschaft konkreten Gehalt geben, sollen einige Argumente, die aus einer sozialtheoretischen Perspektive für die bisherige Praxis sprechen, diskutiert werden. In der gegenwärtigen Diskussion um die Funktion von Verfahren lassen sich zwei wichtige Erklärungsansätze unterscheiden, die für die bisherige Regelung eines deduktiven Verfahrens sprechen. Da wäre zunächst eine Position zu nennen, die innerhalb sozialtheoretischer Debatten mit dem Begriff des Prozeduralismus bezeichnet wird und zu deren wichtigsten Vertretern Jürgen Habermas gehört. Prozeduralismus: der Begriff benennt eine Lehre, derzufolge die Prozedur, also das Verfahren von besonderer Bedeutung für die Legitimität der demokratischen Ordnung moderner Gesellschaften ist. Als Grund führen Prozeduralisten unter anderem an, dass in modernen Gesellschaften die Interessen, Werte und Überzeugungen so vielfältig geworden sind, dass nicht mehr ein inhaltlich bestimmter Wertekonsens, sondern nur noch ein Konsens über legitime Verfahren vorausgesetzt werden kann. Dabei ist, wie Habermas betont, wichtig, dass nicht nur die Anwendung von Gesetzen auf einem legitimen Verfahrensweg erfolgt, sondern dass die Rechtssetzung selbst so vollzogen wird, "dass die Adressaten des Rechts . . . sich selbst als Autoren des Rechts verstehen können". Diese Entsprechung soll dafür bürgen, dass die betroffenen Subjekte die Verfahren als Umsetzung von Normen und Prinzipien wahrnehmen können, an deren kommunikativer und rationaler Erzeugung sie selbst mitgewirkt haben. Die grundsätzliche Akzeptanz von Verfahrensentscheidungen ist also für Prozeduralisten bereits durch die Form legitimer Verfahren gesichert. Ein zweiter wichtiger Ansatz, der das Verhältnis von Akzeptanz und Verfahren thematisiert, ist der systemtheoretische Entwurf von Niklas Luhmann. Diesem Entwurf zufolge sind interne Entwicklungen der Funktionssysteme Recht und Politik dafür verantwortlich, dass die Verwaltungen ihre Verfahren immer effektiver gestalten mussten. Diese Rationalisierungen führten aber nicht zu einem Akzeptanzverlust. Vielmehr geht Luhmann davon aus, dass gerade durch die Effizienz von Verfahren eine Legitimierung nicht nur der Verfahren selbst, sondern auch der sozialen und staatlichen Ordnung als Ganzer hergestellt wird. Unabhängig vom Ergebnis einer Verfahrensentscheidung erscheint das System, das einen Betroffenen zur Annahme eines Entscheids zwingt, als ein verlässlicher Apparat, der bindende Wirkungen erzeugt. Das Akzeptieren von verwaltungsmäßigen Entscheidungen verläuft nach Luhmann also so, dass die Betroffenen, trotz eventueller Enttäuschung ihrer persönlichen Erwartungen, die Entscheidung auf der Basis eines - wie er es nennt - generalisierten Systemvertrauens annehmen. "Verfahren", so schreibt er, "erzeugen nicht nur bleibende Einsichten, sondern auch bleibende Enttäuschungen. Ihre Funktion liegt nicht in der Verhinderung von Enttäuschungen, sondern darin, unvermeidbare Enttäuschungen in die Endform eines diffus verbreiteten, privaten Ressentiments zu bringen." In beiden Positionen bildet also, wenngleich aus unterschiedlichen Motiven, gerade die formale Neutralität von Verfahren die Grundlage für Legitimation und Akzeptanz. Nimmt man allerdings zur Kenntnis, auf wie wenig Zustimmung manche Verfahren - und auch gerade dasjenige der Unterbringung von Asylbewerbern - stoßen, dann stellt sich die Frage, ob die Ableitung von Akzeptanz aus der Verfahrensform allgemein tragfähig ist. So entdeckt man bei genauerer Betrachtung in Luhmanns Analyse eine Wendung, die unsere Problemstellung in ein neues Licht rückt. Denn die Häufung fremdenfeindlicher Übergriffe im vergangenen Jahrzehnt weist darauf hin, dass die "Endform . . . privaten Ressentiments", in die Luhmann zufolge die durch Verfahren erzeugten Enttäuschungen gefügt werden soll, eine von Grund auf prekäre Form der Legitimation darstellt. Unter günstigen Rahmenbedingungen mag sich zwar das Ressentiment mit Systemvertrauen verbinden und auf diesem Weg zu einer Stabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung beitragen. Unter anderen Umständen, wie etwa denen der neuen Bundesländer in den Jahren nach der Vereinigung, kann sich ein solches Vertrauen wohl kaum ausbilden. Resignation ist hier weit verbreitet. Die Neigung, jemandem die Schuld aufzuladen und die Frustration gewaltsam auszudrücken, wächst sich in weiten Kreisen zu einem üblichen, ja akzeptierten Verhalten aus. Als Sündenböcke und Objekte der Gewalt dienen - wie seit Jahrhunderten - die Fremden. Vor dem Hintergrund der systemtheoretischen Analyse wird deutlich, welch fatale Allianz die modernen Verfahren mit solchen Emotionen eingehen. Indem die staatliche Gewalt durch die sachlich-unpersönliche Weise, in der sie auf die Bürger wirkt, ein diffus verbreitetes Ressentiment miterzeugt, macht sie jenes Verfahren, durch das sie Fremde einem so geprägten Umfeld verordnet, zur Lunte am Pulverfass. Gäbe es einen Plan hinter diesem Prozedere, müsste man formulieren: hier werden dem ressentimentgeladenen Affekt Menschen als Objekte der Aggressionsentladung frei Haus zugestellt. Diesem Wirkungszusammenhang kann auch die in prozeduralistischer Sicht gegebene Legitimation durch Autorschaft wenig entgegensetzen. Denn der Verfahrensweg, auf dem zunächst die partikularen Bedürfnisse und Interessen in eine allgemeine Gesetzesform gebracht und sodann durch behördlichen Vollzug umgesetzt werden, trennt in einem doppelten Abstraktionsschritt das Resultat, das immer in der Veränderung einer lokalen Wirklichkeit besteht, von den Wünschen und Werten, die dort gegeben sind. Selbst wenn vor Ort eine humanitäre Einstellung und die Bereitschaft, sich auf Veränderungen einzulassen, bestehen, so ist im behördlichen Bescheid doch keine Spur dieser werthaften Selbstverpflichtung wiederzuerkennen. Für die Betroffenen dürfte dieses Verfahren in seiner sinnentleerten Formelhaftigkeit gerade nicht als Umsetzung einer politischen Willensbildung erscheinen, sondern als Akt staatlicher Willkür. Wen wundert, dass diejenigen, deren Altruismus und Mitgefühl ohnehin nicht deutlich ausgeprägt ist, in dem staatlichen Akt kein Vorbild eines werthaften Handelns zu erkennen vermögen? Was aber ist die Alternative? Wie kann man soziale Aufgaben wie die Unterbringung von Asylbewerbern angehen, ohne solche prekären Wirkungen zu erzeugen? Michael Walzer, ein bedeutender Theoretiker des Kommunitarismus, einer einflussreichen Strömung in der nordamerikanischen Sozialphilosophie, weist darauf hin, wie wichtig es ist, die Akteure, die im prozeduralistischen Verständnis hinter den Verfahrensformen verschwinden, wieder an die Oberfläche zu bringen. Diejenigen Gruppen, die von einem sozialen Problem betroffen sind oder sich an einer Lösung beteiligen wollen, sollen mit ihren spezifischen Wertvorstellungen und partikularen Interessen in den Prozess einbezogen werden. Bürgerinitiativen, Gewerkschaftsgruppen, Elternzusammenschlüsse, kirchliche Gruppen, Heimatverbände, Migrantenvereine, Flüchtlingshilfegruppen - es existiert eine Vielzahl von Gruppen, die sich in unterschiedlichem Maße darum bemühen, mitzuwirken. Walzer sieht in solchen Gruppen die Grundlage einer politisch aktiven Zivilgesellschaft. Dass sich in ihnen nicht nur hehre Ziele artikulieren, ist auch ihm bewusst. Dennoch fürchtet er die Stärke der Gruppen nicht. Im Gegenteil: Er tritt dafür ein, sie zu fördern und verbindet diese Position mit dem Argument, dass eine Vielzahl starker Gruppen einer bornierten Einstellung ihrer Mitglieder eher entgegenwirkt, da sie ihnen ermöglicht, aktiv für ihre Belange einzutreten. Das Gefühl, etwas bewirken zu können, steht genau am Gegenpol zu dem Gefühl des hilflosen Hinnehmens, zu dem schwelenden Ressentiment, das die formalisierten Verfahren erzeugen. Während in der prozeduralistischen Konzeption eine lange Schleife von der politischen Willensbildung über Gesetzgebungsverfahren zu institutionellen Umsetzungen verläuft, geht es nach Walzers Auffassung darum, eine möglichst große Nähe zwischen dem Ort, an dem sich ein Problem stellt und dem, an dem es angegangen wird, herzustellen. Es stellt sich also nicht die Alternative, ob einem deduktiven, obrigkeitsstaatlichen Verfahren eine freie Verhandlung von Argumenten vorzuziehen ist, sondern vielmehr die Frage, ob nicht eine Organisationsform gefunden werden kann, die die Bereitschaft zur Aufnahme und die politische Kommunikation vor Ort stärker fördert. Im Folgenden soll ein Vorschlag gemacht werden, der das verwaltungsmäßige Verteilungsverfahren von Asylbewerbern durch eines ersetzt, das mit lokalen Wertvorstellungen und Lernprozessen verbunden bleibt. Zunächst einmal ist zu berücksichtigen, dass diejenigen Kommunen und Stadtteile, die Fremde aufnehmen, eine Leistung erbringen; eine Leistung, die, da sie nicht von allen Bürgerinnen und Bürgern gleichermaßen erbracht wird, fairerweise entlohnt werden sollte. Eine Entlohnung könnte dadurch bewerkstelligt werden, dass sämtliche Kommunen einen bestimmten Betrag in einen Topf einzahlen, aus dem die aufnehmenden Kommunen entlohnt werden. Die Entlohnung sollte sich dabei nicht in der Erstattung der Unkosten für die Unterbringung erschöpfen. Vielmehr sollten die Gelder frei für die Verbesserung der lokalen Lebensumstände eingesetzt werden können. Es ist wichtig, dass hier tatsächlich Wünsche erfüllbar werden. Ein solcher Vorschlag mag zunächst den Anschein vermitteln, dass hier der finanzielle Aspekt in den Vordergrund trete, dass gar Moral gekauft werden solle. Doch wird bei näherer Betrachtung erkennbar, dass der materielle Einsatz hier eher die Rolle eines Katalysators spielt. Denn dieses Prozedere weist zwei beachtliche Vorzüge auf, die weit über den materiellen Aspekt hinausweisen. Zum einen wird durch die Einrichtung eines finanziellen Topfes der fatale Zusammenhang von Zumutung und Gewalt gegen Fremde durchbrochen. Die Fremden wären etwas wert. Kommunale Projekte (Kindergärten, Gemeindestraßen, Sportanlagen etc.) könnten gerade dadurch verwirklicht werden, dass man Fremde aufnimmt. Die Fremden wären nicht mehr das Objekt, das der Staat dem Volk zuweist, sondern ihre Aufnahme würde zu einer Möglichkeit mit Vor- und Nachteilen; eine Möglichkeit, die man annehmen oder verwerfen kann. Zum anderen führt die Frage, ob man Fremde aufnehmen soll oder nicht, vor Ort zu Diskussionen und politischer Meinungsbildung. Es kämen unvermeidlich auch die werthaften Aspekte auf den (Verhandlungs-)Tisch: "Man tut ja auch etwas Gutes damit"; "Schließlich hilft man ja auch Bedürftigen"; "Wie würde es denn Ihnen gehen, wenn Sie in einem fremden Land ankämen?" etc. Das bedeutet nicht zuletzt auch, dass die im nationalen Recht verankerten Normen eine Rückbindung an die alltägliche Wertediskussion bekämen. So könnte dieser Verteilungsweg beide Voraussetzungen erfüllen, die dem deduktiven Verfahren mangeln: Erstens würde er eine Bereitschaft zur Aufnahme von Fremden wecken, so dass diese am Ort ihrer Aufnahme willkommen sind; die Aufnahme wäre nun das Resultat einer eigenen Entscheidung. Und zweitens setzte er die Kommunikativität von Verfahren aktiv ein: nun muss in den Gemeinden diskutiert werden, ob man lieber eine Abgabe bezahlt und unter sich bleibt oder ob nicht doch eine für alle akzeptable Lösung zur Aufnahme gefunden werden kann. Selbstverständlich wird es auch hier Streit und Unmut geben. Doch die, die hier entscheiden, sind die Leute vor Ort, die Gemeinderäte und Bürgermeister, eventuell sogar eine Gemeindeversammlung. Damit ist das anonyme und darin immer ambivalente Verhältnis zwischen "dem Volk" und dem Staatsapparat aufgebrochen. Die Entscheidung bekommt Gesicht und steht in Beziehung zu den Werten, mit denen man lebt - und die nicht nur materielle sind. Neben diesen Vorzügen gibt es eine Reihe von problematischen Aspekten, die eigene Überlegungen und flankierende Instrumente erfordern. So ist erstens zu bedenken, ob eine solche Wahlmöglichkeit der Gemeinden überhaupt noch sicherstellt, dass alle Asylbewerber, denen nach dem Grundgesetz ein subjektives Recht auf Asyl zusteht, in den Genuss dieses Rechts kommen können. Dazu ist Folgendes zu erwähnen: Das subjektive Recht auf Asyl war in der Praxis niemals eine universale Norm. Es war niemals dafür gesorgt, dass allen, die irgendwo auf der Erde politisch verfolgt wurden, eine Möglichkeit eingeräumt wurde, Asyl zu erhalten. Walzer weist darauf hin, dass eine konsequente Umsetzung der universalen Norm dazu verpflichten würde, nicht nur "die Glücklichen und die Aggressiven, die es irgendwie geschafft haben, unsere Grenzen zu überschreiten", aufzunehmen, sondern in den unterdrückenden Staaten selbst Anlaufstellen einzurichten - eine Vorstellung, die in vielerlei Hinsicht utopisch ist. Wenn also das Moment der Bereitschaft, hilfsbedürftige Personen aufzunehmen, de facto ohnehin in das Asylverfahren eingeht und offenbar eingehen muss, dann ist es wesentlich konsequenter, den Zusammenhang von Norm und faktischer Aufnahmebereitschaft zu akzeptieren, als Bedingung wahrzunehmen und nach Möglichkeiten Ausschau zu halten, diese Bereitschaft zu fördern. Gemäß dieser Überlegung hätte das Verfahren des Kommunenentscheids den doppelten Vorzug, zum einen strukturell die Aufnahmebereitschaft zu steigern, zum anderen ein sehr einfach handhabbares Instrumentarium bereitzustellen, um auf unterschiedlichen Bedarf zu reagieren. Steigt die Zahl der Asylbewerber/innen, so könnte der Betrag, den die Kommunen in den Asyltopf einzahlen bzw. aus ihm erhalten, angehoben werden. So läßt sich das Verfahren sehr flexibel mit der Bewerbersituation verknüpfen. Ein zweiter Punkt, der zu bedenken ist, betrifft die Gefahr, dass Gemeinden, nur um in den Genuss finanzieller Vorzüge zu kommen, Asylbewerber in wenig geeigneten oder sogar menschenunwürdigen Behausungen unterbringen. Hier ist zunächst einmal zu betonen, dass die gegenwärtige Situation vielerorts so schlecht ist, dass sie wohl kaum unterboten werden könnte. Dadurch, dass die zuteilende Behörde bislang gegenüber der Kommune als eine Leistung fordernde Instanz auftritt, haben weder die Behörde noch die Kommune ein Interesse daran, auf die Angemessenheit des Wohnraums zu achten. In der Behörde ist man froh, wenn eine Zuweisung überhaupt gelingt und möchte den Fall nicht durch weitere Ansprüche verkomplizieren. Vor Ort findet sich für gewöhnlich wenig Bereitschaft, die als Zumutung empfundene Zuweisung durch besondere Bemühungen um einen bewohnbaren Zustand der Unterkunft zu honorieren. Auch hier stellt sich die Situation durch das Kommunenentscheidverfahren günstiger dar. Die Kommunen, die sich um eine Zuteilung von Asylsuchenden bewerben, müssen geeigneten Wohnraum vorweisen. Bevor sie den Zuschlag erhalten, werden die Vorschläge begutachtet. Auch an diesem praktisch relevanten Punkt zeitigt also die Umkehrung einer staatlichen Forderung in eine Leistung einen positiven Effekt. In einem solchen Rahmen könnte also ein Verfahren, das auf der Diskussion und der Entscheidung vor Ort beruht, die Weichen zu einem grundlegend besseren Verhältnis zwischen den Bürgern und ihren Fremden stellen. Da die Aufnahme von Migranten keine katastrophische Ausnahmesituation ist, sondern sich weiterhin und dauernd stellt, ist es wichtig, ein Vorgehen zu finden, das in dem Sinne nachhaltig ist, dass es die Bereitschaft, die es stets benötigt und beansprucht, zugleich auch fördert. Das gegenwärtige Verfahren treibt die im Grundgesetz verankerte Norm und die Verhältnisse vor Ort immer weiter auseinander. In der Polarisierung von verordneter Humanität und ihrer im Verwaltungsakt praktizierten Missachtung erleidet die Zivilgesellschaft Schiffbruch und die Aufnahme von Schutzsuchenden auch. Um dem entgegenzuwirken, müssen wir dafür sorgen, dass unsere Vorgehensweisen und Verfahren sensibel für ihre Wirkungen werden und ihre Effekte im politischen Feld mitbedenken. Not tut also eine Repolitisierung der Verfahren. |