junge Welt, 02.11.2000 Die Gewehre im Anschlag Fact-finding-mission: Friedensaktivisten aus New York in den Palästinensergebieten *** junge Welt dokumentiert nachfolgend den Bericht einer vierköpfigen Delegation des International Action Centers (IAC) über die Situation in Palästina seit Beginn der al-Aqsa- Intifada. Die Delegation aus New York wollte sich vor Ort über die Unterdrückung durch die israelische Armee überzeugen und überbrachte Medikamente, nachdem die palästinensischen Krankenhäuser den medizinischen Notstand ausgerufen hatten. Der Notstand rührt von den vielen verletzten Opfern der israelischen Repression und der Behinderung der Kranken und Verwundeten an israelischen Kontrollposten auf ihrem Weg zum Krankenhaus. Zur Delegation gehören Richard Becker, Sara Flounders, Randa Jamal und Preston Wood. *** Am 30. Oktober eskalierte der Konflikt mit der Bombardierung palästinensischer Städte durch israelische Panzer und Hubschrauber. Nach offizieller Zählung beläuft sich die Zahl der Toten bis zu diesem Tag auf 159 - 151 Palästinenser und acht Israelis. Unzählige Palästinenser in der Westbank und im Gazastreifen wurden verwundet. Gegen Mitternacht wurde über Fernsehen dazu aufgefordert, jeder Bewohner der palästinensischen Gebiete solle zu seinem Stadtzentrum gehen, um gegen die israelischen Angriffe zu demonstrieren. Es war ein Aufruf zu einer breiten nationalen Demonstration, die dann auch kurz nach Mitternacht stattfand. Die vierköpfige IAC-Delegation hielt sich zu diesem Zeitpunkt in Ramallah auf, wo sie am nächsten Morgen Medikamente und Verbandsmaterial dem dortigen Krankenhaus übergeben wollte. Ramallah war eines der Ziele der israelischen Bombardements. Von dem Dach eines Hauses aus konnte die IAC-Delegation den steigenden Beschuß durch Panzer selbst beobachten. Die Ereignisse der Nacht beschreibt IAC-Gründer Richard Becker: »Um ungefähr 22.30 Uhr sahen wir einen Apache- Hubschrauber, der Ziele in einiger Entfernung zu unserem Haus mit Raketen beschoß. Ein Flugzeug war über uns, wir sahen eine Flamme, und kurz danach gab es eine Meile entfernt, vielleicht auch eineinhalb, eine riesige Explosion. Wir gingen umgehend zu der Stelle. Bei dem Ziel handelte es sich um ein sehr kleines Gebäude der Fatah in El-Bireh, der Schwesterstadt Ramallahs, das von den Raketen getroffen wurde. Als wir ankamen, waren bereits viele Menschen auf der Straße. In der Gegend befinden sich keine Geschäfts- oder Bürogebäude, es ist ansonsten ein reines Wohnviertel. Die Rakete traf das Fatah-Büro, das vielleicht zwei mal vier Meter groß ist, ein winzig kleines Häuschen. Die umliegenden Wohnhäuser waren ebenfalls stark beschädigt. Wir gingen in eines hinein, um mit den Leuten in den Wohnungen zu sprechen, deren Fenster durch die Explosion alle zerstört wurden. Teile der Rakete wurden in eine Wohnung geschleudert. Glücklicherweise wurde niemand verletzt. Wir trafen auf einen sehr verängstigten siebenjährigen Jungen und zwei 13- und 16jährige Mädchen, die ebenfalls noch unter Schock standen. Ihre Mutter, eine US-Bürgerin, die meistens in Birmingham, Alabama, lebt, hat sich außerhalb des Hauses aufgehalten, als sie die herannahenden Flugzeuge und Hubschrauber hörte. Sie brachte die Kinder in einen Flur in der Mitte des Hauses und schützte sie mit einer Matratze. Die Rakete schlug dann auf der anderen Straßenseite ein, zerstörte das Büro und die ganze Fassade des Wohnhauses. Überall lagen Trümmer herum und eben die Raketenteile im Haus. Die Bewohner eines anderen Hauses hatten nach Angaben von Nachbarn dieses nur fünf Minuten vor dem Einschlag verlassen. Dieses Haus wurde schwer beschädigt. Große Mauerteile lagen auf der Straße, alle Fenster sind zerstört worden. Das Haus war nicht betretbar. Ins Haus geschleuderte Raketenteile versengten den Teppich. Das Feuer breitete sich jedoch nicht aus.« Becker fügte hinzu, daß sich die Menschen sehr wohl im klaren darüber waren, daß die bei der Bombardierung eingesetzten Waffen US-amerikanischer Herkunft sind. »Ein Mann, der seit vielen Jahren in einer Wohnung dieses Hauses wohnt, hob einen Stein auf, den die Explosion in seine Wohnung geschleudert hatte. Er hielt ihn hoch und sagte, >Ich würde Präsident Clinton gerne etwas sagen, ich möchte ihm das zurückschicken.<« »Die Familie, bei der ich wohne«, sagte die stellvertretende Chefin des IAC, Sara Flounders, »hat einen Bruder in Nablus. Er hat angerufen und gesagt, daß dort auch vier Bombenangriffe stattgefunden hätten. Sie trafen ein weiteres Fatah-Büro bei der Universität von Nablus. Wir hörten auch von Bomben auf Rafah, eine geteilte Stadt am südlichen Ende des Gazastreifens.« Überall auf der Strecke von Bethlehem nach Ramallah und offensichtlich auch überall in der gesamten Westbank, dem Gazastreifen und großen Teilen Israels hatte das Militär Kontrollpunkte aufgebaut. Die IAC-Mitglieder mit ihren US- Pässen konnten diese Kontrollen passieren. Den Palästinensern, die ihr ganzes Leben dort verbracht haben, war dies jedoch nicht erlaubt. Sie waren eingesperrt, gefangen in ihrem eigenen Land. Am Vortag brauchte die Delegation trotz der US-Pässe zwei Stunden, um von Ostjerusalem nach Beit Sahour bei Bethlehem zu kommen, eine Fahrt, die normalerweise weniger als eine halbe Stunde dauert. In Beit Sahour übergaben sie die erste Medikamentenlieferung. »Für die Medikamente war es höchste Zeit«, erklärte Flounders, »nichts, was zur Versorgung der Verwundeten benötigt wurde, ist von den Israelis durchgelassen worden. Kleine Kliniken suchten händeringend nach Antibiotika und Verbandsmaterial.« Das Alltagsleben der Palästinenser ist durch diese Komplikationen sehr eingeschränkt. »Der Vater einer Familie, bei der wir wohnten, arbeitete zu der Zeit in Jenin und konnte acht Tage lang nicht nach Hause kommen«, so Flounders weiter. »Letzte Woche wurde die Schule seiner Kinder zerbombt - die Kinder sind traumatisiert. Ich bin überrascht, wieviel Durchhaltevermögen die Leute haben.« Am Tag davor machten die IAC-Mitglieder in Bethlehem, Beit Sahour, Beit Jala und im Flüchtlingslager ähnliche Erfahrungen. Trotzdem diese Gebiete mehrmals Bombenangriffen ausgesetzt waren, bekundeten die Menschen ihren Willen, sich von den Israelis nicht vertreiben zu lassen. Die Gewalt gegen Palästinenser ging nicht nur vom israelischen Militär aus. Palästinenser, die sich in den Randgebieten ihrer Wohngebiete aufhielten, wurden von gewalttätigen Siedlergruppen und den reaktionärsten Teilen der israelischen Gesellschaft geschlagen, verbrannt und teilweise sogar verstümmelt. Bauern, die von der Olivenernte nach Hause gingen, wurden angegriffen. Die IAC-Delegation hat sich in Jerusalem mit palästinensischen und jüdischen antizionistischen Aktivisten getroffen, die zum Schutz der Palästinenser vor den Siedlern mobile Gruppen organisieren. »Aber es war klar«, so Flounders, »wie gefährlich es für die Palästinenser sogar in ihren eigenen Dörfern war. Gruppen von Siedlern, bis zu den Zähnen mit automatischen Gewehren bewaffnet, marschierten mitten durch die palästinensischen Straßen, das Gewehr im Anschlag, jederzeit bereit auf Leute zu schießen, denen der Besitz einer Waffe verboten ist.« Die Siedler wohnen in militärisch geschützten Dörfern auf den höchsten Punkten des Landes, auf den Hügeln über den Feldern und Dörfern der Palästinenser. »Wenn man nicht selbst dagewesen ist«, sagte Flounders, »dann kann man sich nur schwer vorstellen, wie nahe sich die Siedlungen bei den palästinensischen Dörfern befinden. Das sind Wehrsiedlungen um Jerusalem und Ramallah, die durch Straßen verbunden sind, die nur Autos mit israelischem Kennzeichen befahren dürfen. Die palästinensischen Dörfer selbst sind abgeriegelt. Von den Siedlungen aus können diese Dörfer leicht ins Visier genommen und beschossen werden. Und die Siedler tun das auch.« Übersetzung: Peter Schäfer *** Kontakt: International Action Center, Email: iacenter@iacenter.org, Internet: www.iacenter.org |