Süddeutsche Zeitung, 2.11.2000 Die Nahostreise des deutschen Bundeskanzlers: Alles nach Plan, selbst bei den Palästinensern Gratwanderung mit Turbos in der Sakkotasche In der politisch höchst angespannten Situation hat Gerhard Schröder keinen Fehler gemacht und als Außenpolitiker an Statur gewonnen / Von Kurt Kister Gaza, 1. November - Beim Essen in einem Saal mit hundert Leuten kann man ganz schön einsam sein. Gerhard Schröder sitzt zur Rechten von Jassir Arafat, allerdings so weit weg, dass ein Gespräch, selbst wenn beide fließend Englisch könnten, kaum möglich ist. Also tun sich Kanzler und Palästinenserpräsident an Salat, toten Fischen und Reis gütlich, während ihnen Diplomaten, Minister, Berater und sonstige Politgroupies über die Teller hinweg interessiert beim Kauen zusehen. Das Essen findet im Amtssitz Arafats in Gaza City statt, ist nur mittelmäßig schmackhaft, aber trotzdem eine große Erleichterung für den Bundeskanzler. Nach dem Essen nämlich wird die Kolonne durchs staubig heiße Gaza zurückfahren, und dann geht es heim nach Berlin. Die Nahostreise des Kanzlers ist vorüber, es ist alles gut gegangen. Kurz bevor der Kanzler Arafats Haus verlässt, hebt ein Schröder-Berater die rechte Hand, spreizt fünf Finger ab, lacht und sagt: "Day five." Der Mann hat jeden Tag sorgenvoll mitgezählt. Und jetzt, am Ende des fünften Tags, ist er zufrieden. An diesem Mittwochvormittag deutet in Gaza City wenig darauf hin, dass in den Palästinensergebieten täglich Menschen erschossen werden. Die Stadt liegt im gleißenden Sonnenlicht, grau, schmutzig, voller Bauruinen. Der Kanzler sieht jedoch nicht mehr als Arafats Amtssitz. Und wenn am Nachmittag die Intifada wieder losgeht, wird er schon im Flugzeug sitzen. Arafat, dessen Unterlippe immer stärker zittert, hat Schröder öffentlich und ausführlich gedankt und vor der Presse das Wort Israel nicht einmal ausgesprochen. Alles ist also nach Plan für Schröder gelaufen, selbst bei den Palästinensern. Die ewige Flamme Am Abend zuvor in der Halle des Gedenkens in Jad Vaschem: Die Flamme lodert hoch, obwohl sie das in diesem Moment eigentlich noch nicht tun sollte. Der Bundeskanzler geht, nein, er schreitet in der dämmrigen Düsternis des Baus auf die Metallskulptur zu, die die Flamme birgt. Die Visite in der Holocaust-Gedenkstätte auf dem Jerusalemer Herzel-Berg bildet den Abschluss von Gerhard Schröders Tag in Israel, der gleichzeitig der vorletzte Tag des Nahost-Trips des Kanzlers ist. Im fein ausgeklügelten Programmheft heißt es zu diesem Punkt der Gedenkzeremonie in Jad Vaschem: "Der Bundeskanzler tritt vor das Mahnfeuer auf der rechten Seite und entzündet es, indem er den Hebel langsam nach rechts schiebt." Weil Gerhard Schröder sich auf dieser Reise aus guten Gründen an fast alles hält, was ihm aufgeschrieben wird, schiebt er also steinernen Gesichts den Hebel nach rechts. Jetzt sollte die Flamme auflodern - aber weil sie ja schon die ganze Zeit lichterloh brennt, geht sie stattdessen aus. Das ist ein wenig peinlich, aber wie zu erfahren ist, passiert das Besuchern ziemlich häufig, weshalb dann auch ganz selbstverständlich der den deutschen Kanzler begleitende Ministerpräsident Ehud Barak etwas zu einem anderen Menschen murmelt. Prompt erscheint ein Kerl in Jeans, der mit einem Einwegfeuerzeug die ewige Flamme wieder zum Brennen bringt. So pragmatisch sind die Israelis. Der Tag war, wie leider üblich in der letzten Zeit, von Gewalt geprägt gewesen: Am Morgen hatten israelische Kampfhelikopter Polizeigebäude in Gaza beschossen; bei Demonstrationen starben drei Palästinenser; ein CNN-Reporter wurde von einer Kugel getroffen. Arafat, dem Schröder eigentlich in Bethlehem begegnen wollte, hatte zu allem Überfluss aus nicht recht ersichtlichen Gründen die Besuchsplanung im vorletzten Moment über den Haufen geworfen. Er wollte den Kanzler nun doch in Gaza sehen, und während Schröder seine Gespräche in Jerusalem führte, arbeiteten die Protokoll-Menschen daran, die Kanzler-Kolonne für den nächsten Tag umzudirigieren. Trotz solcher Widrigkeiten hat sich Schröder zwischen Kairo und Gaza erstaunlich gut geschlagen. Als die Reise vor Monaten geplant wurde, sollte sie nichts anderes werden als eine Folge von Antrittsbesuchen des Kanzlers in diversen arabischen Ländern, Israel und dem Arafat-Gebiet nebst wirtschaftlichem und touristischem Programm. Dann aber brach der Friedensprozess zusammen, die Gewalt eskalierte, und im Kanzleramt fragte man sich, ob es nicht besser sei, die Unternehmung zu verschieben angesichts unkalkulierbarer Risiken und möglicher innenpolitischer Auswirkungen - die Union würde doch geradezu nach tapsigen Fehlern Schröders lechzen. Die Ausgangslage also war denkbar schwierig: Palästinenser und Israelis befinden sich in einem Semi-Kriegszustand; der Verhandlungsfaden ist von Gummigeschossen durchtrennt und von Molotow-Cocktails verbrannt worden; die arabischen Nachbarn Israels fürchten sich wie Jordanien und Ägypten entweder vor einem palästinensischen Unabhängigkeitskrieg oder sie wollen ihn, wie manche in Syrien und im Libanon, herbeiraunen. Inmitten dieser brodelnden Melange nun bewegte sich der Kanzler. Zwar ist er kein außenpolitischer Lehrling mehr. Dennoch wäre es für ihn angenehmer gewesen, er hätte seine Reise nach Arabistan und Israel als eine Art gehobenen Volkshochschulkurs "Der Nahe Osten heute" nutzen können. Dies war ihm nicht vergönnt. Seine Rolle war vielmehr die des Bundeskanzlers, der als Deutscher, Vertreter einer europäischen Mittelmacht und EU-Staatschef so neutral wie nur möglich, aber stets das besondere Verhältnis zu Israel bedenkend, die Konfliktparteien zu Mäßigung, Gewaltlosigkeit und Verhandlungsbereitschaft mahnen musste. Diese Rolle hat er erfüllt, egal ob in Kairo oder Beirut, in Amman, Damaskus oder Jerusalem. Er war der Staatsmann im dunklen Anzug, der schon das eine oder andere Aha-Erlebnis bei seinen jeweils rund zwanzigstündigen Aufenthalten in den fünf Ländern und dem Semi-Staat Palästina hatte. Jedenfalls war es ein beliebtes abendliches Gesprächsthema der Mitreisenden an den Bars der gehobenen Kettenhotels zwischen Kairo und Jerusalem: Ist er jetzt wirklich auch schon ein richtiger Außenpolitiker? Oder beobachtet man noch ein work in progress? Orientalische Mischung Die verfahrene Lage in Palästina allein hätte schon gereicht, die Reise als schwierig zu bezeichnen. Da waren aber auch noch neben den diplomatisch eher unproblematischen Staaten Ägypten und Jordanien zwei Länder, die vor Schröder noch nie ein deutscher Kanzler bereist hatte: Syrien und der Libanon. Letzterer wird regiert von Rafik Hariri, einem milliardenschweren Bauunternehmer, der aussieht wie eine orientalische Mischung aus Josef von Ferenczy und Rudolph Mooshammer, nur etwas kleiner. Hariri, den mit Jacques Chirac eine Freundschaft verbindet, regiert ein Land, in dem die Syrer noch immer die militante Hisbollah unterstützen, einige Palästinensercamps de facto rechtsfreie Räume sind und in dem Jahre nach dem Bürgerkrieg noch immer zerschossene Ruinen neben glänzenden neuen Hochhäusern stehen. Hier also schwebte der Kanzler des Nachmittags ein und mahnte zur Gewaltlosigkeit und zur Unterstützung der "stabilisierenden Kräfte" im Süden des Libanon, wo vor allem die Hisbollah jene Stellungen bezogen hat, welche die Israelis vor Monaten geräumt hatten. Am Abend richtete Hariri in seinem Privathaus ein Essen für 400 Leute aus, am nächsten Morgen flog dann der Luftwaffen-Airbus mit der ganzen Entourage weiter nach Jordanien. Was bringt ein solcher Blitzbesuch in einem Land, dessen innere Verhältnisse so kompliziert sind, dass sich seine Bewohner mehr als zehn Jahre lang gegenseitig abgeschlachtet haben? Was bleibt zurück, zum Beispiel beim Bundeskanzler, außer der Erkenntnis "man muss mal da gewesen sein, weil der Libanon eine wichtige Rolle als stabilisierender Faktor spielen kann"? Ja doch, Außenpolitik lebt auch von Symbolen, von Staatsbesuchen, offiziellen Dinners und Absichtserklärungen. Aber eine solche Tour durch sechs Länder in fünf Tagen ist auch ein Gewaltakt, der der Erinnerung nicht zuletzt eine Fülle absurder Bilder beschert - im Libanon den Bauunternehmer als Premier und eine Motorradeskorte für den Kanzler, die aus dickbäuchigen, blau gewandeten Hausmeister-Typen auf alten Harleys bestand. Ähnlich war es mit Syrien. Von Amman einfliegend kam man an, als es schon dunkel wurde. Unter Blaulicht fuhr die Kolonne durch die Stadt, um am Sitz des politisch eher bedeutungslosen Premierministers ein für die bilateralen Beziehungen durchaus wichtiges Abkommen über die Begleichung alter Schulden und die Gewährung neuer Kredite zu schließen. Am Ende des Gesprächs stand das von Schröder an jedem Ort eisern wiederholte öffentliche Statement: die Gewalt beenden, Verhandlungen beginnen, bei einer Eskalation gibt es nur Verlierer, wirtschaftliche Entwicklung braucht Frieden, Frieden braucht Entwicklung. Nachts rasten dann alle in aberwitziger Fahrt einen Berg hinauf, auf dessen Gipfel der alte Assad seinen so genannten Volkspalast hatte bauen lassen. Dieses Ding ist eine marmorprotzende Scheußlichkeit von größtmöglicher architektonischer Kälte, ein Monument des Wüsten-Stalinismus. Die Delegation wurde zum Abendessen in einen Saal von Parkhausgröße geführt, in dem die Mitglieder der alten Machtelite des verstorbenen Führers Assad misstrauisch beäugten, ob ihr neuer Staatspräsident Baschar al Assad, von Beruf Augenarzt und Erbe des Vaters, alles richtig machte. Der junge Assad soll, so hieß es, im kleinen Kreise mit dem Kanzler einen durchaus modernen, reformfreudigen Eindruck gemacht haben. Beim Staatsdinner allerdings hielt er eine scharfe Rede, in der er Israel jeden Willen zum Frieden absprach und außerdem auch noch, wenig verklausuliert, Deutschland der Einseitigkeit zieh. Das Essen war, in diesem Falle glücklicherweise, nach knapp 75 Minuten vorbei, und man wurde stante pede wieder den Berg hinab gescheucht. Hätte der wackere Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye um Mitternacht nicht seinen 60. Geburtstag gefeiert, hätte man Syrien, auch wenn es politisch ungeheuer wichtig ist, in ziemlich schlechter Erinnerung behalten. Auf einer Reise dieser Art neigt man leider auch dazu, Länder auf ihr politisches System und das politische System auf flüchtige Eindrücke zu reduzieren. Reisen bildet, Staatsbesuche können verbilden. In fünf Tagen kann man den Nahen Osten nicht verstehen, erst recht nicht, wenn man als Bundeskanzler der regierende Großgeneralist zwischen Steuerreform, NPD-Verbot und EU-Erweiterung sein muss. Warum aber war die Reise dann doch ein Erfolg? Warum hat sich das Risiko, so gesehen, gelohnt? Sicherlich lag es daran, dass die symbolische Bedeutung einer solchen Rundreise in diesen Zeiten der Kugeln und der Steine groß ist. Mahnungen, die an den Plätzen des Geschehens ausgesprochen werden, haben außerdem Gewicht, wenn sie vom Regierungschef eines Landes kommen, das zu den größten Geldgebern für die arabischen Staaten und Israel zählt. Der Kanzler selbst philosophierte eines Abends sehr ausführlich darüber, dass und wie "ökonomisches Engagement" politischen Einfluss bedingt und nach sich zieht. Auf die Vorhaltung, ob es sich dabei nicht um "Scheckbuch-Diplomatie handele, erläuterte Schröder fast so etwas wie ein wirtschaftlich orientiertes außenpolitisches Handlungskonzept. Natürlich gehörte bei allem auch Glück dazu. Eine wirkliche Eskalation am Montag oder Dienstag in Gaza hätte die Reise zu einem Desaster werden lassen können. "Wir reiten auf einer Welle", sagte einer der Schröder-Menschen, "die plötzlich umschlagen kann." Wellenreiter übrigens trachten danach, kurz vor dem Umschlagen weg zu kommen, in diesem Falle also nach Hause zu fliegen. Stets die gleiche Botschaft Und zu Schröders Einsatz als Nahost-Mahner gehörte noch etwas. Im amerikanischen Politslang nennt man das message control. Schröders Message, die Botschaft, die er überall verkündete und kaum variierte, lautete: Die Gewalt beenden, an den Verhandlungstisch zurückkehren. Einerseits ist das banal, bei entsprechender Wiederholung aus dem Munde des deutschen Bundeskanzlers aber kann daraus ein Konzept, gar eine EU-Nahostpolitik werden. Allerdings funktioniert es nur, wenn der Kanzler sich daran immer und überall hält. Dazu verhalf ihm seine eigene Erkenntnis, dass er nicht mehr sagen kann und darf, als er sich vorgenommen hat. Zur Gedächtnisstütze dienten ihm DIN-A-5-Zettel, auf dem für jede Gesprächssituation und für jeden öffentlichen Auftritt die passenden Stichpunkte standen. "Turbos" haben sie diese Zettel genannt, weil sie nach der Art eines Turbo-Beschleunigers dem Kanzler die entscheidenden Dinge in der entscheidenden Situation ins Gedächtnis brennen sollten. Um außerdem jeder Gefahr garstiger Fragen und unüberlegter Antworten aus dem Wege zu gehen, hielt Schröder keine einzige Pressekonferenz während der Reise ab, sondern trat immer nur, mit einem Turbo in der Sakkotasche, als Verkünder vor die Mikrofone. Er gäbe wohl einiges darum, wenn er das auch in Berlin einführen könnte. |