Neue Zürcher Zeitung (CH), 3.11. Verdorbene Vermittlung im Palästinakonflikt Das Treffen Arafat - Peres durch das Attentat überschattet Der Palästinenserführer Arafat hat am Donnerstag gemäss dem mit Peres getroffenen Abkommen zur Beruhigung aufgerufen. Bei Begräbnissen im Gazastreifen haben Palästinenser jeglicher politischen Ausrichtung betont, die Aksa-Intifada weiterführen zu wollen. Chirurgen in Gaza stiessen auf eine neue von Israel verwendete Munition. vk. Limassol, 2. November Der neue Verständigungsversuch Arafats und Baraks nach genau fünf Wochen der Aksa-Intifada, die mittlerweile über 150 Todesopfer gefordert hat, ist am Donnerstag durch das Bombenattentat in Westjerusalem überschattet worden. Ein feierlicher Aufruf der beiden Politiker über Radio und Fernsehen zur Beruhigung der Lage musste zunächst auf Verlangen Baraks ausbleiben. Arafat erliess einseitig einen Appell an die Palästinenser, sie sollten mit friedlichen Mitteln für die nationale Sache kämpfen. Abzug israelischer Panzer Arafat hatte sich in der Nacht auf Donnerstag mit seinem Nobelpreis-Partner Shimon Peres getroffen und eine für die israelische Regierung und die Palästinenserführung verbindliche mündliche Übereinkunft getroffen. Der PLO-Führer bestätigte die Abmachung sofort telefonisch mit Barak. Nach Arafats Sprecher muss diesem Abkommen gemäss zunächst Israel seine Panzer und schweren Waffen aus den Autonomiegebieten abziehen. Damit haben die Truppen nach Beobachtung von Journalisten am Donnerstagmorgen begonnen. Als zweites folgte ein Treffen der Feldkommandanten beider Parteien zur Prüfung praktischerBeruhigungsmassnahmen. Die Palästinenser bedingen sich gegenüber Israel eine Bewährungsfrist von 48 Stunden aus, bevor sie auf weitergehende Verhandlungen eintreten. Weiter wurde die sofortige Einsetzung einer Untersuchungskommissionvereinbart, für deren Vorsitz der ehemalige türkische Präsident Demirel vorgeschlagen wurde. Die Hamas-Bewegung lehnte die Übereinkunft ab und forderte ein Weiterführen der Intifada. Die Demonstrationen in den besetzten Gebieten gegen die Israeli fielen am Donnerstag etwas weniger gewalttätig aus, obwohl am Morgen im Westjordanland noch ein junger Mann umkam. Arafats Sicherheitskräfte hinderten die Aktivisten nach Möglichkeit daran, in die Nähe der israelischen Stützpunkte vorzudringen und Steine zu werfen. Trotzdem wurden bei Kfar Darom im Gazastreifen neun Demonstranten verletzt. Ein Trauerzug mit Zehntausenden von Teilnehmern für drei Opfer der Konfrontationen vom Mittwoch verlief jedoch ohne Zwischenfall. Die gewalttätigen Extremisten rechneten offenbar mit einem Erfolg der Beruhigungsinitiative und hielten den Zeitpunkt für ein Bombenattentat im Gemüsemarkt von Westjerusalem für gekommen. Massive Einsätze schwerer Waffen Am Mittwoch hatte sich eine bedrohliche Verschärfung der Konfrontation angekündigt, nachdem drei israelische Soldaten und sechs Palästinenser umgekommen waren. Die Armee ergriff,wie Barak es angedroht hatte, an jenem Tag vermehrt die Initiative und setzte an zahlreichen Orten Kampfhelikopter und Panzerkanonen ein. Vor allem im Dorf al-Khadr bei Bethlehem kam es zu eigentlichen Kämpfen; dabei beschossen die Israeli mit Helikoptern und Artillerie die Palästinenser. Auch jüdische Siedler beteiligten sich nach Berichten palästinensischer Journalisten an der Schiesserei. Zwei israelische Soldaten kamen ums Leben, und vier wurden verletzt; die Palästinenser beklagten drei Tote, unter ihnen einen Polizisten, sowie Dutzende von Verwundeten. Im benachbarten Beit Jala trafen Panzergranaten mehrere palästinensische Wohnhäuser. Ein weiterer Israeli kam bei Jericho ums Leben. Im Gazastreifen fiel ein Palästinenser, und mindestens 50 wurden verletzt. Das israelische Kabinett beschloss nach offiziellen Angaben massive Vergeltungsmassnahmen für den Tod der Soldaten, setzte diese aber aus, um Peres Zeit für seine Mission zu geben. Dieser stellte in der darauf folgenden Nacht dem Palästinenserführer offenbar noch blutigere Konsequenzen in Aussicht, falls Arafat nicht Hand zum Frieden biete. Aufrufe zur Fortführung des Kampfs im Gazastreifen ber. Gaza, 2. November Zwei Kilometer vor Gaza City, der grössten Stadt des Gazastreifens, liegt der Maqbaret ash- shuhada, der Märtyrerfriedhof. Mit seinen Zypressen und dem weiten Blick auf die umliegenden Felder wäre es ein beschaulicher Ort, würde hier nicht praktisch jeden Tag mindestens ein «Märtyrer», nämlich ein durch israelische Kugeln getöteter Palästinenser, begraben. Am Donnerstag ist es Ibrahim Ajjur, ein 14-jähriger Junge aus dem Flüchtlingslager Shati. Dort begann vor 13 Jahren die Intifada, welche die Palästinenser heute als die erste Intifada bezeichnen. Vielleicht ist es die lange kämpferische Geschichte des Flüchtlingslagers, welche die Mutter Ibrahims sagen lässt: «Ich habe drei weitere Söhne, und wenn die Israeli die töten, dann habe ich noch sechs Töchter.» Wohl eher spricht aus ihren Worten die verdrängte Trauer, die in der plötzlich aufkommenden Wut der Anwesenden einfach keinen Platz findet. Anfeuerung durch den Scheich Auf Jeeps und kleinen Lieferwagen sind Mitglieder der verschiedenen palästinensischen politischen Gruppen eingetroffen. Die jungen Männer schwingen bunte Fahnen: die weisse für die Fatah-Jugendorganisationen, die schwarze und die grüne für Jihad und Hamas, die rote für die Demokratische Befreiungsfront. In einem Jeep von Hamas sitzt der Führer persönlich, der alte, gelähmte Scheich Yassin. Mit seiner gebrochenen Stimme feuert er die Trauergäste an. «Gebt nicht auf!», ruft der Scheich, und «Nur der Kampf kann uns befreien». Zahlreiche Frauen und Mädchen, welche die Mutter Ibrahims begleiten, antworten im Chor: «Nein zu Sharm ash-Sheikh, Ja zur Intifada!» Da überschlägt sich plötzlich eine weitere Stimme am Mikrophon: «Ein Selbstmordkommando, ein gelungenes Selbstmordkommando! Wir haben 15 Juden getötet, 15 Juden!» Die Leute klatschen, die Jungen springen in die Luft vor Freude. «Endlich haben wir uns gerächt», meinen die einen, «ein kleiner Ausgleichfür unsere 170 Märtyrer», die anderen. Die Nachrichten aus dem Radio, dass nicht 15, sondern 2 Israeli bei der Explosion der Autobombe in Westjerusalem umgekommen sind, geht in Kampfrufen und patriotischen Liedern unter. Ebenso untergegangen scheint das am Vorabend zwischen Arafat und Peres erreichte Abkommen zu sein. Auf dem Rückweg vom Friedhof in die Stadt sehen wir ein paar Halbwüchsige, die hastig neue Sprüche auf eine bereits stark beschriftete Mauer sprayen: «Unsere Führung muss auf uns hören. Die Intifada geht weiter.» Ganz ähnlich denken die Buben, die Jugendlichen und die jungen Männer, die in dem vor drei Tagen eröffneten al-Kuds-Spital in Gaza City liegen. Einer der Patienten wartet ungeduldig auf den Tag, an dem er sich von seiner Schussverletzung so weit erholt hat, dass er entlassen wird. «Während auf uns geschossen wird, trinkt Arafat Tee mit Peres. Was soll dabei herauskommen? Solange Panzer in Palästina stehen, werde ich Steine auf sie werfen», meint der 16-Jährige und bittet darum, nicht photographiert zu werden. Den Kampfgeist brechen Beim al-Kuds-Spital ist eine Ambulanz eingetroffen. Der norwegische Anästhesist Mads Gilbert weist auf die frischen Einschusslöcher im Fahrzeug. Laut seinen Aussagen ist dies bereits der 40. Ambulanzwagen, der angeschossen wurde. In 33 Fällen sollen die Fahrer, Beifahrer oder Sanitäter verletzt worden sein, einmal sogar mit tödlichem Ausgang. Bei näherem Hinsehen identifiziert Gilbert, der hier mit andern Norwegern infreiwilligem Einsatz für das norwegisch-palästinensische Solidaritätskomitee steht, die Schusslöcher als ein Resultat gummibeschichteter Kugeln. Nicht diese machten ihnen im Moment Kopfzerbrechen, sagt der Arzt, sondern eine neue, am Mittwoch erstmals bei Verwundeten festgestellte Munitionsart. An diesem Tag seien auffallend viele Patienten mit Bauchschüssen eingeliefert worden. Zunächst waren die Ärzte darüber erstaunt, dass die Einschusslöcher winzigklein waren und keinerlei Austrittslöcher auszumachen. Einer der Chirurgen, Khalil Abulful, stellte bei den folgenden Operationen fest, dass die Patienten schwere und oft irreparable innere Verletzungen aufwiesen. Die Ärzte zeigten sich davon überzeugt, dass die Kugeln winzige Mengen an explosiven Stoffen enthalten, die ihre Wirkung erst nach dem Einschuss entfalten. |