Süddeutsche Zeitung, 4.11.2000 Streit um die Einwanderung nach Deutschland Das Märchen vom Asylbetrug Nur drei Prozent der Flüchtlinge werden anerkannt, meint die Union - es sind zehn Mal so viele, sagt ein internes Papier der Ausländerbeauftragten Marieluise Beck / Von Joachim Käppner Zu den beliebtesten Begriffen der Ausländerbehörden in Asylverfahren gehört das Wort "Ermessensspielraum", meist gefolgt von der Begründung, warum man bedauerlicherweise keinen solchen besitze. "Keinen Ermessensspielraum hätten etwa jene Beamten gehabt, die Hüseyin Calhan, Träger des Aachener Friedenspreises 1999, am Dienstag in die Türkei abschieben ließen. Das erklärte lakonisch Nordrhein-Westfalens Innenminister Fritz Behrens (SPD). Calhan war Sprecher der kurdischen Flüchtlinge im "Wanderkirchenasyl", das den Behörden seit langem ein Dorn im Auge ist. Seit September hatte er in Büren in Abschiebehaft gesessen. Behrens hatte Recht: Das Asylrecht in seinem gegenwärtigen Zustand ließ ihm tatsächlich kaum eine andere Wahl. Trotz zahlreicher solcher Fälle gilt das deutsche Asylrecht als eines der liberalsten der Welt, was in der erhitzten Diskussion um die "deutsche Leitkultur" eine wesentliche Rolle spielt. Anders als SPD, FDP und Grüne möchte die Union - die am Montag ein "Eckpunktepapier" zur Einwanderung vorlegen will -, mehrheitlich das Asylrecht mit einem Einwanderungsgesetz koppeln. Dies fordert auch der saarländische Ministerpräsident Peter Müller, der die CDU-Einwanderungskomission leitet. In der Praxis würde das bedeuten, das Grundrecht auf Asyl noch weiter einzuschränken. "90 000 unberechtigte Bewerber Einige Unionspolitiker argumentieren mit beeindruckenden Zahlen. "Nur drei Prozent" der Asylbewerber würden anerkannt, sagt der neue CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer in einer Rundfunkdebatte. Der Umkehrschluss ist leicht zu ziehen: Was suchen die übrigens 97 Prozent Asylbewerber noch hier? "90 000 Unberechtigte werden jährlich in unser Land gespült", behauptet der innenpolitische Sprecher der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Wolfgang Zeitlmann. Diese Zahlen sind spektakulär hoch - und spektakulär falsch. Wer so argumentiert, sagt die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Marieluise Beck (Grüne), wecke "einen ungerechtfertigten Missbrauchsverdacht gegenüber schutzwürdigen Asylsuchenden". Um der "Mär von der Anerkennungsquote von drei Prozent" entgegenzutreten, hat sie die Asylzahlen in ihrer Behörde systematisch auswerten lassen. Das noch unveröffentlichte Papier, das der Süddeutschen Zeitung vorliegt, trägt den Titel: "Wider die Mythen im deutschen Asylrecht". Das Zahlenwerk ist kompliziert, aber aufschlussreich. Für das Jahr 2000 sind etwa 80 000 Asylbewerber zu erwarten - die niedrigste Zahl seit 1987. Deutschland ist längst nicht mehr das Land mit den meisten Flüchtlingen in Europa, wie nach dem Umbruch in Osteuropa Anfang der neunziger Jahre. Im Verhältnis zur Bevölkerungszahl steht die Bundesrepublik auf Platz zehn, hinter Holland und der Schweiz. Brisant ist das Papier aber vor allem, weil es detailliert der von der Union immer wieder aufgeworfenen Frage des Asylmissbrauchs nachgeht. Zwar werden tatsächlich nur etwa drei Prozent der Bewerber sofort als politisch Verfolgte im Sinne des Grundgesetzes anerkannt. Ausländische Flüchtlinge werden aber auch in der Form des "Kleinen Asyls"anerkannt, wenn "zwingende Abschiebungshindernisse" aufgrund völkerrechtlicher Abkommen wie der Genfer Flüchtlingskonvention vorliegen. Der Asylsuchende kann dann zwar keine individuelle staatliche Verfolgung in seinem Heimatland nachweisen, wie es der eng gefasste Artikel 16 des Grundgesetzes verlangt. Aber der Staat erkennt an, dass ihm bei einer Rückkehr konkrete Gefahr für Leib und Leben drohen würde. Rechnet man diese Gruppe hinzu, liegt die jährliche Anerkennungsquote in den Jahren 1995 bis 1999 schon zwischen neun und 13,5 Prozent. Hinzu kommt, dass jeder vierte Asylantrag aus "formalen Gründen" abgelehnt wird. Das bedeutet, dass ein Asylbewerber längst wieder ausgereist ist, ohne auf einen Bescheid zu warten, oder seinen Antrag zurückgezogen hat. Oder, der häufigste Fall, das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge weist aussichtslose Folgeanträge zurück. Rechnet man die große Anzahl dieser Ablehnungen "aus formalen Gründen" heraus, liegt die Anerkennungsquote beim Bundesamt schon zwischen 15 und 22 Prozent pro Jahr. Wer mit den ominösen drei Prozent argumentiert, vergisst außerdem den Rechtsweg. Zwei von drei abgelehnten Asylbewerbern ziehen aber vor Gericht. Die Erfolgsquote der Klagen liegt nach den Zahlen der Ausländerbeauftragten bei immerhin zehn Prozent. Damit erhöht sich die jährliche Anerkennungsquote auf bis zu 29 Prozent. Die Zahl der Asylsuchenden, die aus zwingenden rechtlichen Gründen bleiben dürfen - und nach der Definition der Ausländerbeauftragten unter die "Anerkennungsquote" fallen -, liegt also zehnmal höher als der CDU-Generalsekretär behauptet. Und damit sind die Rechenbeispiele noch nicht zu Ende. Das Büro der Ausländerbeauftragten hat noch die "Schutzquote" berechnet und kommt auch hier zu unerwarteten Zahlen. Demnach haben seit 1995 insgesamt 48,4 Prozent der Asylsuchenden Schutz vor der Abschiebung aus Deutschland erhalten. Die Anerkennungsquote ist hier schon mit einberechnet. Die übrigen Asylbewerber innerhalb der "Schutzquote" dürfen auch nach der Ablehnung ihres Asylantrags bleiben, weil die Lage in ihrem Herkunftsland zu gefährlich ist. Heim ins Reich der Gotteskrieger Hinter diesen Zahlen verbergen sich dramatische menschliche Schicksale - etwa jene von 120 000 Kosovo-Albanern, die seit 1995 in Deutschland bleiben durften. Aus dieser Gruppe erhielten gerade einmal zwei Prozent Asyl. Dass die Kategorien "Missbrauch" oder "Wirtschaftsflüchtlinge" für die übrigen 98 Prozent wohl kaum passen, haben die Massengräber und ethnischen Säuberungen im Kosovo leidvoll bewiesen. Spitz bemerkt Beck: "Die NATO hat sicher nicht für Wirtschaftsflüchtlinge interveniert. Ein anderes Beispiel ist eine Gruppe von 20 000 Afghanen, deren Asylanträge allesamt abgelehnt wurden. Deshalb halten sie sich aber noch lange nicht "unberechtigt" hierzulande auf. In ihrer Heimat herrschen fast überall die islamistischen Taliban, und ins düstere Reich der Gotteskrieger lassen sich schlecht 20 000 Menschen abschieben. Also bleiben die Afghanen. Angesichts solcher Verhältnisse kritisiert die Ausländerbeauftragte "die irrwitzige Debatte" um die Anerkennungszahlen: "Wenn fast die Hälfte aller Asylgesuche am Ende zu einer Form der Schutzgewährung führen, kann weder von einer hohen Zahl von Wirtschaftsflüchtlingen noch von überbordendem Missbrauch die Rede sein. Nach ihrer Rechnung müsste die Gruppe der Schutzberechtigten sogar noch größer sein. Denn in der Asylpraxis führten die "restriktiven Anerkennungskriterien" oft zu "unerträglichen Entscheidungen". Frauen aus Algerien oder Roma aus dem Kosovo würden zurückgewiesen, weil "nichtstaatliche Verfolgung" in Deutschland kein Asylgrund ist. Beck: "Die Ablehnung eines Schutzgesuchs trotz offensichtlicher Schutzbedürftigkeit zerstört das notwendige Vertrauen in das Recht.
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