Freitag, 3.11.2000 Wenn die Angst übermächtig wird ... ASYL Kurz vor der Abschiebung treten bei Kriegsflüchtlingen oft Traumata und Selbstmordabsichten zu Tage. Zu spät, sagen Behörden Bettina Stang Wie kann man Folter oder Bomben vergessen? amnesty international und andere Flüchtlingsorganisationen gehen davon aus, dass 20 bis 30 Prozent der Flüchtlinge in Deutschland durch Gewalterfahrungen traumatisiert sind. Behörden und Gerichte im Asylverfahren haben dafür - wie im Fall Calhan (siehe Kasten) - wenig Verständnis. Während Ärzte und Flüchtlingsinitiativen ein dauerhaftes Bleiberecht für Traumatisierte fordern, denken besonders rigide Behörden darüber nach, ob die Betroffenen nicht auch im Heimatland behandelt und deshalb dorthin abgeschoben werden können. Die Kurdin Adule K. wartet mit den zwei Kindern in der Abflughalle des Frankfurter Flughafens auf die Abschiebung. Teilnahmslos steht sie da, als könne nichts in der Welt sie mehr berühren - doch in ihrem Kopf tobt der Schrecken. Erinnerungen und Ängste kommen wieder, die sie mit ihrer Ankunft in Deutschland mühsam aus ihrem Bewusstsein gedrängt hatte. Ihre Ärztin hat sie vor kurzem wegen chronischer psychosomatischer Beschwerden zum Psychiater überwiesen. Doch das Sozialamt bestand vorher auf einem Termin beim Gesundheitsamt. Der ist erst in fünf Tagen. Die ungeduldigen Mühlen der Ausweisungsbürokratie haben Adule schon früher an den Flughafen befördert. Die meisten Bundesländer verzichten auf Abschiebeandrohungen, sobald sich ein Flüchtling in psychotherapeutischer Behandlung befindet. Tausende von abgelehnten, aber traumatisierten Asylsuchenden werden eshalb »geduldet« und können nicht ausgewiesen werden. Einigen Ausländerbehörden ist das ein Dorn im Auge. Sie werfen Ärzten vor, »Gefälligkeitsgutachten« zu schreiben, wenn sie den Patienten Reiseunfähigkeit und Suizidgefahr attestieren. In Berlin ermittelte deswegen sogar eine »SOKO Trauma« gegen ein serbokroatisch sprechendes Ärzte-Ehepaar, doch die angezweifelten Atteste hatten vor Gericht Bestand. Gefälligkeitsgutachten sehen Flüchtlingsinitiativen stattdessen auf der anderen Seite: Die Stadt Berlin habe eigens Polizeiärzte angestellt, um die vorgelegten Atteste zu überprüfen und gegebenenfalls entgegen der fachärztlichen Diagnose die Reisefähigkeit festzustellen, so der Vorwurf. In Hessen werden fachärztliche Atteste nochmals vom Gesundheitsamt geprüft. In Baden-Württemberg, wo Behörden bei der Ausweisung auch nicht gerade zimperlich vorgehen, wurde diese Praxis durch ein Urteil des Verwaltungsgerichtshofes (VGH) in Mannheim bestätigt: Es gesteht den Behörden ausdrücklich die Möglichkeit zu, im Einzelfall auch suizidgefährdete, in psychotherapeutischer Behandlung stehende Flüchtlinge abzuschieben. Die Richter bemängelten im Falle eines Kurden, dass die vorliegenden ärztlichen Gutachten dessen Selbsttötungsabsicht nicht mit »beachtlicher Wahrscheinlichkeit« diagnostiziert hätten. Darüber hinaus erklärte das Gericht, der unter schweren Depressionen leidende Mann könne auch in der Türkei behandelt werden. Diese Argumentation hat schon viele, nicht nur psychisch schwerkranke Flüchtlinge um ihre Heilungschancen gebracht. Behörden und Gerichte begründen, chronische oder langwierige Krankheiten wie Tuberkulose seien auch im Heimatland behandelbar, oft aber, ohne dabei den Stand der Medizin oder die Kosten der Therapie zu berücksichtigen. Ernst-Ludwig Iskenius ist »aus allen Wolken gefallen«, als er von dem Urteil aus Mannheim hörte. Iskenius arbeitet bei »Refugio«, einer Kontaktstelle im badischen Villingen, die traumatisierten Flüchtlingen Behandlungsmöglichkeiten vermittelt. In den vergangenen Wochen haben drei von Refugio behandelte Patienten Abschiebeandrohungen erhalten. »Die Behörden nehmen ausdrücklich Bezug auf das Urteil«, erzählt Iskenius. Offenbar gingen sie davon aus, dass die begleitenden BGS-Beamten im Stande sein werden - womöglich mit Hilfe von Ärzten und Psychopharmaka - eine mögliche Selbsttötung während der Abschiebung zu verhindern. In einem der Schreiben findet sich folgende Passage: »Aufgrund der nun abschließend vorliegenden Stellungnahme des Gesundheitsamtes (...) können suizidale Handlungen im Falle einer Abschiebemaßnahme bei (...) nicht völlig ausgeschlossen werden. (...) Die Bezirksstelle für Asyl wird im Falle einer erforderlich werdenden Abschiebung im übrigen alle Maßnahmen treffen, um diese den ärztlichen Vorgaben entsprechend abzusichern. Diese Vorgehensweise entspricht auch der ständigen Rechtssprechung (vergl. VGH BW vom 2.5.00). Danach sind Suizidgefahren oder Suiziddrohungen bei ausreisepflichtigen Ausländern nicht grundsätzlich geeignet, von der Abschiebemaßnahme abzusehen.« Das Urteil könnte einige Bundesländer auch in ihrer harten Linie gegenüber den 35.000 noch in Deutschland verbliebenen Bosniern bestärken. Ihr Schicksal steht auf der Tagesordnung der nächsten Innenministerkonferenz im November. Während die Ausländerbeauftagte Marieluise Beck und einige SPD-geführte Länder eine Bleiberechtsregelung für die traumatisierten Bosnien-Flüchtlinge fordern, gehen andere Bundesländer davon aus, dass sich die Behandlung auch in Bosnien fortsetzen lasse. »Das Heimatland symbolisiert die Bedrohung, unabhängig von der realen Bedrohung. Sie ist immer da, wenn der Betroffene nur daran denken muss. Für traumatisierte Menschen bedeutet eine Abschiebung, dass er zwangsweise mit den Orten des Traumas und möglicherweise mit Personen konfrontiert wird, die zum Kreis der Täter gehören könnten«, heißt es in einer Stellungnahme der Ärzte in sozialer Verantwortung/IPPNW zu dem Urteil der Mannheimer Richter. Die Organisation weist auch darauf hin, dass gerade traumatisierten Menschen das Recht auf Asyl meist verwehrt werde. Traumatisierte können ihre Leidensgeschichte oft nur fragmentarisch schildern - aber genau, wenn die Schilderung nicht lückenlos ist, wird der Asylantrag erfahrungsgemäß abgelehnt. Folter und Gewalt werten die Behörden außerdem oft als »übliche Praxis« von Militär im Kriegsgeschehen oder Polizei, also noch nicht als ausreichende Begründung für individuelle politische Verfolgung. In 40 Prozent aller Fälle werde die Traumatisierung außerdem erst mit der Zustellung der Abschiebeandrohung sichtbar, erklärt Iskenius. Vorher sei es den Menschen noch möglich gewesen, jeden Gedanken an die erlittenen Schrecken zurück zu drängen - mit der konkreten Androhung der Rückreise stürze dieser Schutzwall aber in sich zusammen. Auch wenn es dem Flüchtling noch gelingt, zu einem Arzt zu gehen, ist es oft zu spät: Viele Behörden beachten Atteste, die nach der Abschiebeandrohung eingereicht werden, gar nicht mehr; das Prozedere der Abschiebung kann nur wenig stoppen. »Wir laufen da der Zeit hinterher«, bedauert Iskenius. Er unterstützt deshalb die Forderung der Bundesarbeitsgemeinschaft Pro Asyl, die ein Bleiberecht für Gewaltopfer unabhängig von einer ärztlich attestierten Traumatisierung fordert. Denn vielen gelinge es, die traumatischen Erfahrungen zu verdrängen und den Arztbesuch zu lange hinauszuschieben. Kurz vor Abflug der Maschine nach Istanbul rettet Adule K. doch das Attest der Ärztin: Sie sei suizidgefährdet und nicht reisefähig. Ein Referatsleiter im saarländischen Innenministerium hatte es zwar als nicht aussagekräftig zurückgewiesen - die Frau verhalte sich doch ganz ruhig -, doch die BGS-Beamten am Flughafen nehmen die Selbstmordgefahr ernst und erklären die Abschiebung als nicht durchführbar. Vorerst. Inzwischen wartet Adule K. auf die Diagnose des Gesundheitsamtes, die ein Internist, kein Psychologe ausstellen wird
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