Süddeutsche Zeitung, 4.11.2000 Schutzschild des Abendlandes Die Europäische Menschenrechtskonvention hat in 50 Jahren ihre Wirksamkeit bewiesen Sie gilt von Lissabon bis Wladiwostok und dient 800 Millionen Menschen als Schutzschild gegen den eigenen Staat. Geprügelte Kinder in Großbritannien berufen sich darauf, gefolterte Kurden in der Türkei oder verurteilte Mauerschützen in Deutschland. Und auch so prominente Häftlinge wie Abdullah Öcalan und Egon Krenz sehen darin ihr letztes Heil: Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) wird an diesem Samstag 50 Jahre alt und ist doch aktueller denn je. Zum einen, weil sich immer mehr Menschen auf sie berufen. Zum anderen, weil nach einem Bericht von Amnesty International derzeit in mindestens 25 Staaten Europas gefoltert wird. Von den Kriegsgräueln in Tschetschenien ganz zu schweigen. Als die Staatsmänner Westeuropas die Konvention am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten, ahnten sie nicht, dass sie einmal zur Magna Charta für das ganze Europa werden würde. Ausgehend von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN legten sie vielmehr für den im Europarat vereinten freien Teil des Kontinents Mindeststandards fest. Dabei geht es um "klassische" Menschenrechte - um die Rechte auf Leben, Freiheit und Meinungsfreiheit etwa, um das Verbot von Folter oder Sklaverei und um die Garantie eines fairen Justizverfahrens. Nun war eine solche internationale Charta schon damals nichts Neues. Das besondere an der EMRK ist jedoch, dass es nicht bei einem schönen Dokument und frommen Wünschen blieb. Die Konvention ist vielmehr ein Völkervertrag, der von den Bürgern direkt eingeklagt werden kann. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat zwar keine Möglichkeit, seine Urteile zu vollstrecken. Sie wurden jedoch in der Vergangenheit fast immer anstandslos befolgt. So entschädigte das Land Niedersachsen eine kommunistische Lehrerin, die mit Berufsverbot belegt worden war. Großbritannien schaffte die Prügelstrafe an Schulen ab, Dänemark erließ ein Gesetz zur Gleichstellung unehelicher Kinder und die besonders oft verurteilte Türkei begrenzte die Dauer des Polizeigewahrsams. Italien musste sich immer wieder für seine endlosen, bis zu 52 Jahre dauernden Gerichtsverfahren rügen lassen. Peinlich war nur, dass der Gerichtshof selbst immer länger für seine Urteile brauchte. Er wurde zum Opfer seines eigenen Erfolges. Vor allem der Beitritt von 17 Staaten Mittel- und Osteuropas zum Europarat und zur EMRK ließ die Zahl der Klagen anschwellen. Eine Reform vor zwei Jahren brachte kaum Entlastung. Derzeit sind 15 000 Beschwerdeverfahren bei den 41 Richtern in Straßburg aufgelaufen. Zudem hat es in diesem Jahr erstmals ernste Probleme bei der Befolgung von Urteilen gegeben. Die Türkei und Frankreich sträubten sich. Die Minister aus den Europarats-Staaten sind daher am Freitag und Samstag nicht nur zum Feiern in Rom zusammengekommen. Sie beraten auch, wie der Schild von 800 Millionen Europäern noch wehrhafter gemacht werden kann. Stefan Ulrich
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