Neue Zürcher Zeitung, 4. November 2000

Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)

Auswirkungen auf das Rechtsleben auch der Schweiz

Kaum ein anderer internationaler Vertrag hat das schweizerische Rechtsleben so sehr beeinflusst wie die 1950 geschaffene Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die die Schweiz 1974 ratifiziert hat. Sie gewährt elementare Grund- und Menschenrechte, die alle staatlichen Behörden unmittelbar verpflichten. Diese Rechte können, wenn sie vor den nationalen Instanzen keine Anerkennung finden, beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg geltend gemacht werden.

Von Mark E. Villiger, Strassburg *

Die Europäische Menschenrechtskonvention entstand als Reaktion auf die Greuel des Zweiten Weltkriegs, doch kam ihr von Anfang an auch eine integrative Funktion zu: Sie sollte im Kern den Grundrechtskatalog einer künftigen Europäischen Verfassung bilden. Nach einer verhältnismässig kurzen Vorbereitungszeit von einem Jahr wurde die EMRK im Rahmen des Europarates am 4. November 1950 in Rom unterzeichnet. Sie trat 1953 in Kraft, nachdem ihr zehn Staaten beigetreten waren. Weitere Staaten kamen zunächstnur allmählich hinzu. Lange wurde der Strassburger Gerichtshof mehrheitlich von Personen aufgesucht, die sich in Haft befanden.

Dies änderte sich in den siebziger Jahren, als die englische Anwaltschaft das Strassburger System für ihre Klientschaft entdeckte. Seither betreffen die Beschwerden alle brennenden Fragen dermodernen Gesellschaft - von den neuen Kommunikationstechnologien über das Ausländerrecht bis zur verdeckten Fahndung im Strafprozess. Heute sind 41 europäische Staaten der EMRK beigetreten, in allen diesen Staaten, auch in der Schweiz, ist die EMRK direkt anwendbar. Die Beschwerdezahl nimmt unaufhörlich zu, und mit dem Beitritt verschiedener osteuropäischer Staaten ist mit einer weiteren Zunahme zu rechnen.

Grundrechtskatalog

Die in der EMRK garantierten Rechte finden sich in den meisten nationalen Verfassungen, auch in der neuen schweizerischen Bundesverfassung, und sollen einen gemeinsamen europäischen Mindeststandard bilden. Häufig angerufenwerden die Garantien des fairen Gerichtsverfahrens, das Recht auf Freiheit und Sicherheit der Person, das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie das Verbot der unmenschlichen Behandlung und der Folter. Andere Rechte betreffen u. a. die Meinungsäusserungsfreiheit, die Ehefreiheit und eine Rechtsweggarantie. Die europäische Staatenwelt hat die EMRK immer wieder mit weiteren Garantien in sogenannten Zusatzprotokollen ergänzt. Das 6. Protokoll verbietet die Todesstrafe, das 7. Protokoll gewährleistet u. a. die Gleichberechtigung der Ehegatten.

Beschwerdeverfahren

Von Anfang an sollte die EMRK einen wirksamen Rechtsschutz gewährleisten, und demGrundrechtskatalog wurde daher ein Beschwerdeverfahren beigegeben. Lange war dieses zweiinstanzlich mit einer Kommission und einem Gerichtshof ausgestattet. Um die wachsende Beschwerdeflut zu meistern, wurde 1998 ein einziger Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte eingerichtet. Diese Reform wurde ursprünglich vom schweizerischen Bundesrat angeregt. Der neue Gerichtshof besteht aus 41 vollamtlichen Richterinnen und Richtern, die in unabhängiger Eigenschaft amten. Er wird vom Schweizer Richter Luzius Wildhaber (Basel) präsidiert.

Beschwerdeberechtigt sind alle Privatpersonen, die geltend machen, Opfer der Verletzung einer EMRK-Garantie seitens einer staatlichen Behörde zu sein. Allerdings ist die Einreichung einer Beschwerde in Strassburg von einer Reihe von Zulässigkeitsbedingungen abhängig. Deren wichtigste ist, dass zunächst alle innerstaatlichen Gerichte - in der Schweiz in letzter Instanz meist dasBundesgericht - sich mit der Rüge befassen sollen, bevor sie in Strassburg geltend gemacht werden kann. Mit anderen Worten schafft die EMRKnur einen subsidiären Rechtsschutz, der Strassburger Gerichtshof will nicht erste, sondern letzte Instanz sein.

Die Urteile und ihre Wirkung

Die Besonderheit des Strassburger Verfahrens liegt in den Wirkungen der Urteile des Gerichtshofs. Erst diese haben der EMRK zu ihrem Erfolg verholfen. Die Urteile können zwar innerstaatliche Hoheitsakte nicht aufheben, sie haben einzig feststellenden Charakter, nämlich ob eine staatliche Behörde eine EMRK-Garantie verletzte oder nicht. Allerdings kommt den Urteilen bindende Wirkung zu, die Staaten müssen sich nach ihnen ausrichten. Wo beispielsweise ein Urteil die unrechtmässige Trennung einer Familie feststellt, wäre diese wieder zusammenzuführen. Wenn das festgestellte Unrecht nicht mehr beseitigt werden kann (z. B. eine unrechtmässige Inhaftnahme), kann der Gerichtshof Schadenersatz anordnen.

Da kein Staat gezwungen wird, der EMRK beizutreten, und die Mitgliedschaft freiwillig erfolgt,erstaunt es nicht, dass die europäische Staatenwelt in den meisten Fällen die Urteile in der einen oder anderen Form befolgt hat. Schwierigkeiten ergeben sich bei strukturellen Problemen, etwa hinsichtlich der überlangen Verfahrensdauer an italienischen Gerichten (die italienische Regierung will nun für solche Fälle innerstaatlichen Schadenersatz vorsehen). Nur in Einzelfällen sindpolitische Gründe massgeblich für Schwierigkeiten in der Durchführung der Urteile (z. B. Zypern/Türkei).

Rechtsprechung

In qualitativer Hinsicht hat die Rechtsprechung des Gerichtshofs das europäische Rechtsleben massgeblich beeinflusst. Sein Markenzeichen waren seit je hochstehende Urteile, welche gesamteuropäischen Bedürfnissen Rechnung tragen. Die Rechtsprechung geht vom Mindeststandard der EMRK aus und will zunächst Lücken schliessen, längerfristig auch den gesamteuropäischen Rechtsschutz allmählich verbessern.

Es ist unmöglich, an dieser Stelle auch nur ansatzweise eine Übersicht zu geben. Die Rechtsprechung der früheren Kommission und des jetzigen Gerichtshofs zum Non-Refoulement im Ausländerrecht - den innerstaatlichen Behörden ist die Ausweisung einer Person untersagt, wenn ihr unmenschliche Behandlung und Folter im Ausland droht - dürfte die Rechtsordnungen aller Mitgliedsstaaten massgeblich beeinflusst haben. Signalwirkung hat ebenfalls das Beweisrecht, welches der Gerichtshof für die Feststellung der gerügten unmenschlichen Behandlung und Folter ingeschlossenen Räumen (Polizeistationen, Haftanstalten usw.) erarbeitet hat und den verschiedenen öffentlichen und privaten Interessen Rechnung trägt. Weitere Schwerpunkte der Rechtsprechung betreffen das Kindschaftsrecht und das Recht auf freie Meinungsäusserung (sowie die einhergehenden Schranken), das gerade auch «unangenehme» Meinungen umfasst, welche «offend, shock or disturb. Such are the demands of pluralism, tolerance and broadmindedness without which there is no <democratic society>» (vgl. das Urteil Lingens c. Österreich, Nr. 103, § 41).

Im Verfahrensrecht hat Strassburg Grundsätze zur öffentlichen Verhandlung im Gerichtsverfahren sowie zur Unschuldsvermutung und zur Waffengleichheit im Strafverfahren entwickelt, welche Gerichte in ganz Europa in ihrer täglichen Arbeit begleiten.

Statistiken

Ein kurzer Blick auf die Statistiken belegt auch die quantitative Bedeutung der EMRK im heutigen europäischen Rechtsleben. Seit 1953 sindüber 60 000 Beschwerden in Strassburg eingereicht worden. Für das Jahr 2000 wird mit rund 10 300 neuen Beschwerden gerechnet, zurzeit treffen täglich etwa 700 Briefe in der Gerichtskanzlei des Gerichtshofs ein. Bis heute sind über 1600 Urteile ergangen. Für das Jahr 2000 rechnet der Gerichtshof, dass er in seinen Entscheidungen und Urteilen etwa 8000 Fälle abschliessen wird. Die 2000 nicht bearbeiteten Fälle werden dem Berg von zurzeit 15 000 hängigen Fällen hinzugefügt werden. In Tausenden von Fällen wird die überlange Verfahrensdauer in Italien gerügt. Zahlreiche Beschwerden gegen die Türkei betreffen Rügen der unmenschlichen Behandlung undFolter sowie der Verletzung der Meinungsäusserungsfreiheit.

Die Schweiz und die EMRK

Die Schweiz trat 1963 dem Europarat bei. Nach Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts sowie der Beseitigung der konfessionellen Ausnahmeartikel ratifizierte die Schweiz am 28. November 1974 die EMRK. Später kamen verschiedene Zusatzprotokolle hinzu. Allerdings hat die Schweiz als einer der letzten Staaten Europas weiterhin das 1. Zusatzprotokoll nicht ratifiziert, zunächst u. a. wegen der in einzelnen Kantonen praktizierten Geschlechterdiskriminierung (d. h. fehlender Zugang der Mädchen zurMittelschule), heute vornehmlich aus (wohl unbegründeter) Sorge, dass damit ein soziales Recht auf Bildung eingeführt werde. Seit 1974 haben die Schweizer Behörden in zahllosen Fällen auf die EMRK reagiert, die ihren festen Platz im Schweizer Rechtsleben gefunden hat. Das Bundesgerichtgeht vorbildlich mit den aus der EMRK resultierenden Verpflichtungen um. Der Bundesrat hat immer wieder Pionierfunktionen übernommen und z. B. die Schaffung des neuen Gerichtshofs von 1998 angeregt. Schweizerinnen und Schweizer nehmen das Individualbeschwerderecht in Strassburg verstärkt wahr. Allerdings wird Kritik an der EMRK gelegentlich von Parlamentariern vorgebracht.

Seit 1974 sind rund 2200 Beschwerden gegen die Schweiz eingereicht worden. In 23 Fällen hat der Gerichtshof eine Verletzung der EMRK festgestellt, in 15 Fällen eine solche verneint. Alleanderen Beschwerden wurden mittels Entscheidungen abgewiesen, früher auch vom Ministerkomitee erledigt. Die Fälle betreffen das gesamte Spektrum des Grundrechtsschutzes: Zugang zum Gericht in Verfahren betreffend Verlängerung von Atomkraftwerks-Bewilligungen; das Namensrecht; Geschlechterdiskriminierung im Zusammenhang mit der Ausrichtung einer Invalidenrente; Unschuldsvermutung; Dauer von Untersuchungshaft und Gerichtsverfahren; der privilegierte Verkehr zwischen Anwaltschaft und angeklagter Person; Verpflichtung der Erben, eine Busse des Erblassers zu bezahlen usw.

Beitritt osteuropäischer Staaten

Nach dem Fall der Berliner Mauer vor 11 Jahren beschloss die europäische Staatenwelt, die neuen demokratischen Staaten Osteuropas rasch in den Mitgliederkreis des Europarates sowie der EMRK aufzunehmen, um ihnen auf dem Weg zur rechtsstaatlichen Demokratie behilflich zu sein. Dieser Grundsatzentscheid wurde später im Europarat und auch in dieser Zeitung immer wieder in Frage gestellt. In Bezug auf die meisten osteuropäischen Staaten ergibt eine Durchsicht der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass der Übergang zur rechtsstaatlichen Demokratie keine grösseren Schwierigkeiten mit sich brachte. Zurzeit werden die meisten Beschwerden gegen Russland und die Ukraine abgewiesen, weil sie Sachverhalte betreffen, die sich vor Inkrafttreten der EMRK für diese Staaten ereigneten. Diese Situation wird sich zweifellos in den nächsten Jahren ändern. Immerhin hat der Beitritt der Ukraine zur EMRK die Abschaffung der Todesstrafe mit sich gebracht: Für über 100 Personen, die die Todesstrafe erwarteten, wurde sie in der Folge nicht vollzogen. Gerade dieses Beispiel zeigt, wie wenig adäquat die Frage ist, ob beispielsweise die Ukraine der EMRK zu früh beigetreten sei.

Aktuelle Probleme

Beim Gerichtshof sind zurzeit 15 000 Beschwerden anhängig, und die Zahl der Beschwerdeeingänge wächst ständig. Damit wirdauch die Reform von 1998 überfordert. Es erstaunt nicht, dass der Gerichtshof diese Beschwerden nicht mehr innert angemessener Fristbehandelt kann. Zwar werden viele klar unzulässige Fälle innerhalb von drei bis neun Monatenerledigt. Doch dauern die Verfahren für die komplexeren Fälle bis zu vier Jahre und länger. Diese Situation ist unhaltbar und für den Gerichtshof ausweglos: Es wird zunehmend schwieriger für ihn, in seinen traditionell hochstehenden Urteilen Antworten auf wichtige offene Fragen der modernen europäischen Gesellschaften zu finden, zur gleichen Zeit sich jedoch auch mit dem Gros der unzulässigen Fälle auseinanderzusetzen.

Gewiss sind die Verfahren immer mehr gestrafft worden, der Gerichtshof steht im Ruf, miteinem hohen Mass an Professionalität zu operieren. Die naheliegendste Lösung, jene der Aufstockung der Mittel (juristisches Personal, Infrastruktur), hilft höchstens kurz- und mittelfristig,denn sie fängt künftige «Wellen» neuer Beschwerden nicht auf. Längerfristig sind grundlegendere Reformen nötig. Letztlich stehen Inhalt und Grenzen des Individualbeschwerderechts zur Diskussion. Die zentrale Frage lautet: Soll der Strassburger Gerichtshof weiterhin höchste bzw. letzte Anlaufstelle für 800 Millionen Bürgerinnen und Bürger der 41 Mitgliedstaaten sein?

Die Erfolgsgeschichte der EMRK kontrastiert mit der enormen Arbeitslast des Strassburger Gerichtshofs. Auch die Schaffung einer separaten Grundrechts-Charta durch die Europäische Union belastet den Aufbruch in das nächste halbe Jahrhundert (vgl. den separaten Artikel in dieser Beilage). Dabei ist es auch in der heutigen Staatenwelt keineswegs selbstverständlich, dass ein internationaler Vertrag verbindlich Grundrechte schützt und Privatpersonen eine Klage gegen einen Staat ermöglicht sowie im Falle der Gutheissung ein verpflichtendes Urteil vorsieht.

* Der Autor ist Titularprofessor an der Universität Zürich und Referatsleiter in der Kanzlei des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und vertritt hier einzig seine eigene Meinung. Der Artikel basiert auf Mark E. Villiger: Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Schulthess- Verlag, Zürich 1999.