Bremer Nachrichten, 4.11.2000 Die Bombe hat nicht gezündet Entsetzen über Rufmord-Kampagne des türkischen Militärs hält sich in Grenzen Von unserer Korrespondentin Susanne Güsten Istanbul. Das Merkwürdigste ist das Schweigen. Da wird eine Rufmord-Kampagne der türkischen Armee gegen unliebsame Politiker, Menschenrechtler und Journalisten aufgedeckt und von den Militärs auch noch bestätigt - doch von den sonst so redseligen Politikern der Regierung in Ankara ist kein Wort zu hören. Es gibt keinen Aufschrei, kein Machtwort des Regierungschefs, geschweige denn eine Untersuchung. So unantastbar sind die Generäle in Ankara, dass sich der Generalstab sogar ungeniert über die "illegale" Veröffentlichung des Komplott-Dokuments beklagen kann. Mitten in einer entscheidenden Phase ihrer Annäherung an die EU zeigt die Türkei in diesen Tagen, wie weit sie von Rechtsstaatlichkeit und ziviler Kontrolle über das Militär entfernt ist. Ans Tageslicht kam das Komplott der Generäle durch die islamistische Parlamentsabgeordnete Nazli Ilicak, die das Dokument zuerst in einer Zeitung und dann bei einer Pressekonferenz in Ankara publik machte. Das Memorandum mit dem Namen "Starker Aktionsplan" war im April 1998 unter dem inzwischen pensionierten Generalstabs-Vizechef Cevik Bir ausgearbeitet worden. Es sah vor, die damalige Festnahme des PKK-Führungsmitglieds Semdin Sakik als Gelegenheit zu nutzen, um missliebige Personen und Institutionen in der türkischen Öffentlichkeit als PKK-Anhänger anzuschwärzen. Ilicak zufolge richtete sich der Plan der Militärs gegen ihre eigene Partei - die islamistische Wohlfahrtspartei - sowie gegen die Kurdenpartei Hadep, den Menschenrechtsvereins-Vorsitzenden Akin Birdal sowie prominente Journalisten. Tatsächlich machten im Frühjahr 1998 nach der Gefangennahme Sakiks angebliche Aussagen des PKK-Funktionärs über Machenschaften und Verbindungen der Kurdenorganisation Schlagzeilen. Sakik wurde unter anderem mit der Aussage zitiert, die PKK habe den früheren schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme getötet. Zudem wurde Sakik in den Mund gelegt, die Hadep-Führung, der Menschenrechtler Birdal sowie die bekannten Journalisten Mehmet Ali Birand und Cengiz Candar stünden auf der Gehaltsliste der PKK. Als Sakik Monate später vor Gericht erschien und sich zum ersten Mal selbst öffentlich äußern konnte, widerrief er diese "Enthüllungen". Doch für einige auf der schwarzen Liste der Militärs war es da schon zu spät. Der als PKK-Handlanger verleumdete Birdal wurde im Mai 1998 bei einem vermutlich rechtsextremistischen Anschlag lebensgefährlich verletzt. Die Leitartikler Birand und Candar erhielten von ihren Verlagen Schreibverbot. Rund zwei Wochen, nachdem Ilicak mit dem Memorandum zum ersten Mal an die Öffentlichkeit ging, meldete sich jetzt der Generalstab zu Wort. In einer schriftlichen Erklärung bestätigte er die Existenz des Papiers, betonte aber, es habe sich um einen Entwurf gehandelt, der niemals umgesetzt worden sei. Die Militärführung beklagte die "illegale" Veröffentlichung eines Geheimdokuments und bekräftigte mit Blick auf die damals ins Visier genommenen Journalisten, wer Interviews mit PKK-Chef Abdullah Öcalan führe, der unterstütze damit die Rebellen. Im übrigen stehe die Armee im Fadenkreuz "dunkler Mächte" und werde sich wie bisher auch weiter dagegen wehren. Ilicak will jetzt von der türkischen Regierung wissen, was sie angesichts der Rufmord-Kampagne des Generalstabs zu tun gedenke. "Normalerweise würde ein solches Papier bei den Politikern einschlagen wie eine Bombe", wundert sich die Leitartiklerin Gülay Göktürk, die sich durch das Memorandum der Militärs an die McCarthy-Zeit in den USA und die Stalin-Ära in der Sowjetunion erinnert fühlt. Göktürk fordert, die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen. "Dieses Komplott darf nicht stumm hingenommen werden." Doch Ankara schweigt.
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