Kölner Stadt-Anzeiger, 7.11.2000 Ausländerbeauftragte widerspricht Missbrauchs-Zahlen Gegen die Mythenbildung im deutschen Asylrecht Für Marieluise Beck ist es eine "irrwitzige Debatte". Was die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung aufregt, sind die falschen Zahlen um Anerkennungsquoten und Wirtschaftsflüchtlinge, die jetzt in die aufgeheizte Diskussion um Einwanderung, Asylmissbrauch und Ausländerfeindlichkeit geworfen werden. In einem internen Papier, räumt die Grünen-Politikerin mit einigen "Mythen" auf, wie sie sich seit langem um das Asylrecht ranken. Ein hartnäckiger Mythos sei sicher die Vorstellung, Deutschland nehme die meisten Flüchtlinge in Europa auf, heißt es da. In Wirklichkeit werden bis Ende des Jahres 2000 etwa 80 000 Asylbewerber in Deutschland um Schutz und Aufenthalt nachgefragt haben. Damit liegt Deutschland, gemessen an der Einwohnerzahl, nur an zehnter Stelle hinter Holland, der Schweiz und vor allem Großbritannien, das die meisten Flüchtlinge aufnimmt. Um eine sachgerechte Debatte zu befördern, ließ die Ausländerbeauftragte systematisch alle Zahlen in ihrer Behörde auswerten. Brisant ist ihr Papier vor allem deshalb, weil das Zahlenwerk erstmals Punkt für Punkt den von den Unionsparteien immer wieder angeprangerten "überbordenden Missbrauch" des Asylrechts zu widerlegen sucht. Denn anders als behauptet, liegt die Anerkennungsquote für Asylbewerber eben nicht nur bei drei Prozent. Frau Beck spricht hier von einer "Mär", nach der 97 Prozent der Asylbewerber aus wirtschaftlichen Gründen kämen. Nach ihren Berechnungen erhalten dagegen insgesamt 48,4 Prozent der Asylsuchenden in Deutschland ganz offiziell Schutz vor Abschiebung, weil die Lage in ihrem Heimatland zu gefährlich ist. Diese überraschend hohe Zahl schlüsselt sie im Einzelnen so auf: Sofort anerkannt als politisch Verfolgte werden nach dem Asylrechts-Artikel 16 des Grundgesetzes jährlich tatsächlich nur etwa drei Prozent der Bewerber, die dann dauerhaft in Deutschland bleiben dürfen. Schutz vor Abschiebung in die Heimat, also das "kleine Asyl", erhalten aber auch viele andere nach der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention und der UN-Folterkonvention. Darunter fallen die Menschen, die zwar ihre individuellen Verfolgungsgründe nicht glaubhaft machen konnten, denen aber gleichwohl bei der Rückkehr in die Heimat Gefahr für Leib und Leben drohen würden. Dass die Ausländerbehörden mit solcher Einschätzung nicht gerade großzügig umgehen, beweisen nicht zuletzt die jüngsten Abschiebefälle von Kurden aus dem Kirchenasyl. Diese Gruppe hinzugezählt, liegt die jährliche Anerkennungsquote schon zwischen neun und 13,5 Prozent. Wer mit den viel zitierten nur drei-Prozent Asylberechtigten argumentiert, unterschlägt nach Ansicht Becks noch etwas anderes: Allein 25 Prozent der Anträge würden aus rein formalen Gründen abgelehnt. So ein Fall liegt dann vor, wenn ein Asylbewerber längst wieder abgereist ist, ohne einen Bescheid abzuwarten (oder auch untergetaucht ist), seinen Antrag zurückgezogen hat oder der Folgeantrag (wie fast immer) abgelehnt wurde. Rechnet man die Zahl dieser Ablehnungen (bei 1000 Anträgen immerhin 250) aus dem ganzen Zahlenwerk heraus, kommt man nämlich bereits auf eine tatsächliche, also sachlich begründete, Anerkennungsquote von 15-22 Prozent. Nicht zu vergessen ist auch der Rechtsweg. Etwa sieben Prozent der Asylbewerber, die mit ihrem Antrag vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge scheitern, sind vor dem Verwaltungsgericht dann doch erfolgreich. Diese noch dazugerechnet, ergibt insgesamt eine Zahl, nach der etwa zehn mal so viele Menschen aus verbindlichen rechtlichen Gründen in Deutschland bleiben dürfen wie immer wieder behauptet wird. Aber damit nicht genug: Konsequent bezieht die Ausländerbeauftragte auch die Menschen mit ein, die "aufgrund der Situation im Heimatland und mangels Rückkehrmöglichkeit" in Deutschland bleiben. Das waren und sind allen voran mehr als 120 000 Kosovo-Albaner und 20 000 Afghanen. "In den letzten fünfeinhalb Jahren" hätten also "mehr als 48,4 Prozent aller Asylsuchenden Abschiebungsschutz erhalten", fasst die Ausländerbeauftragte deshalb zusammen. Die Nato habe sicherlich, meint Frau Beck mit Blick auf die Kosovo-Flüchtlinge, nicht für Wirtschaftsflüchtlinge interveniert. "Wenn fast die Hälfte aller Asylgesuche am Ende zu einer Form der Schutzgewährung führen, kann weder von einer hohen Zahl von Wirtschaftsflüchtlingen noch von überbordendem Missbrauch die Rede sein". Zum Vergleich: Nach Statistiken des Hohen Flüchtlingskomissars der UN hatten Italien und Großbritannien 1999 eine Anerkennungsquote für Flüchtlinge von über 70 Prozent, Österreich von 56,6 Prozent. Mit dem Mythos von der Einzigartigkeit des deutschen Asylrechts scheint es also nicht weit her zu sein. |