Financial Times Deutschland 8.11.2000

EU-Osterweiterung

Von Uwe Roth, Berlin

1997 beschlossen die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten bei ihrem Treffen in Luxemburg mit den Reformstaaten Ungarn, Polen, Estland, der Tschechischen Republik, Slowenien und Zypern Beitrittsverhandlungen zu beginnen.

"Helsinki"-Gruppe
Seit dem Europagipfel 1999 verhandelt die EU auch mit Rumänien, der Slowakei, Lettland, Litauen, Bulgarien und Malta. Auch die Türkei ist Kandidat - Verhandlungen mit Ankara stehen aber noch aus.

Beitrittsszenarien

Die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft hat in den mittel- und osteuropäischen Staaten große Hoffnungen auf einen möglichst baldigen Beitritt zur Europäischen Union geweckt. Ihre wichtigste Frage nach dem Aufnahmedatum wurde von den EU-Staaten mit verschiedenen Beitrittsszenarien beantwortet. Die Beitrittskandidaten stellten ihre Aufnahmeanträge nicht zum gleichen Zeitpunkt. Außerdem kann niemand voraussagen, wie rasch sie den Reformprozess bis zur EU-Reife durchlaufen. Die Szenarien geben den Verhandlungspartnern die notwendige Flexibilität bei der Festlegung des endgültigen Aufnahmedatums, ohne den Kandidaten ihre Perspektive auf die EU-Mitgliedschaft zu nehmen.

"Großer Konvoi" (Szenario I) Eine große Gruppe von acht Bewerberstaaten tritt gleichzeitig zu einem vergleichsweise frühen Zeitpunkt, etwa 2005 oder 2006, bei.

"Kleine Konvois" (Szenario II) Eine erste Beitrittsgruppe eilt den anderen Bewerberstaaten zu einem früheren Zeitpunkt voraus. Die übrigen folgen in kleinen Konvois in die EU.

"Regatta" (Szenario III) Die Bewerberstaaten werden einzeln in die Gemeinschaft aufgenommen gemäß dem Zeitpunkt der jeweiligen Erfüllung der Beitrittskriterien.

Beitrittsprozess

Er verläuft in drei Phasen: Antragsverfahren, Beitrittsverhandlungen und Ratifizierungsprozess. Nachdem ein Land seinen Antrag auf EU-Mitgliedschaft gestellt hat, legen EU-Kommission und die "Alt"-Mitglieder ihre Verhandlungspositionen auf den Tisch. Auch der Antragsteller bringt seine Erwartungen in das Antragsverfahren ein. Erst wenn sich alle Beteiligten auf eine Agenda geeinigt haben, starten die eigentlichen Beitrittsverhandlungen. Im Rahmen der so genannten Beitrittspartnerschaft setzt die EU den Kandidaten kurz-, mittel- und langfristige Vorgaben, die zur Aufnahme erfüllt werden müssen. Nach Ende der Verhandlungen wird eine Beitrittsakte beschlossen. Diese muss einen aufwändigen Ratifizierungsprozess durchlaufen, bevor die Mitgliedschaft in Kraft tritt.

Ratifizierungsprozess

Sind die Beitrittsverhandlungen für einen Bewerberstaat abgeschlossen, muss die gemeinsame Beitrittsakte von allen Mitgliedsstaaten und im Beitrittsstaat abgesegnet werden. In einzelnen Ländern ist außerdem ein Referendum vorgesehen. Die Mitgliedschaft hängt zudem von der Zustimmung des Europäischen Parlaments und Europäischen Rats ab. Lehnt nur eine Instanz die Aufnahme ab, ist der Ratifizierungsprozess gescheitert, das Aufnahmeverfahren muss wiederholt werden. Von der Verabschiedung der Beitrittsakte bis zum Inkrafttreten der Mitgliedschaft vergehen 18 bis 24 Monate.

Kopenhagen-Kriterien

1993 einigte sich der Europäische Rat in Kopenhagen auf Bedingungen für die Aufnahme neuer Staaten. Dazu gehören eine funktionierende Marktwirtschaft, eine demokratischer Rechtsstaat, der Schutz von Menschenrechten und Minderheiten und die Übernahme des EU-Rechtsbestandes.

Acquis communautaire

Da es nach den EU-Verträgen nur eine Vollmitgliedschaft geben kann, müssen Beitrittskandidaten an alle Rechte und Pflichten akzeptieren, die sich aus den Verträgen ergeben, die seit 1953 geschlossen wurden. Zum Rechtsbestand bzw. Acquis communautaire gehören neben den Verträgen alle EU-Gesetze sowie die Urteile des Europäischen Gerichtshofes (EuGH).

Verhandlungskapitel

Um die Beitrittsverhandlungen besser strukturieren zu können, hat die EU-Kommission den Rechtsbestand in 31 Kapitel aufgeteilt. Mit der Luxemburg-Gruppe wurden alle Kapitel eröffnet. Da die EU beim Kapitel "Institutionen" selbst noch nicht erweiterungsreif ist, wird diesesnicht verhandelt.