junge Welt, Interview, 07.11.2000 Per Film gegen Isolationszellen kämpfen? jW sprach mit dem türkischen Filmregisseur Hüseyin Karabey Der 30jährige Regisseur des Films »Boran« (Türkei 1999) lebt und arbeitet in Istanbul. 1990 wurde er verhaftet, weil er sich an Streikaktionen in der Universität beteiligt hatte. Er wurde zu drei Jahren verurteilt, kam aber nach acht Monaten frei. Mit anderen Filmemachern bildet er eine Art »Alternatives Kino« in der Türkei, angelehnt an die Gruppe Dogma 95. »Boran« ist eine Mischung aus Dokumentation und Spielfilm und wurde auf dem Kurzfilmfestival von Antalya als bester Kurzfilm ausgezeichnet F: In Ihrem Film wird das Schicksal der Verschwundenen in der Türkei gezeigt. Was bedeutet »Boran«, und warum haben Sie diesen Titel gewählt? Boran ist der Name einer wilden Taubenart in der Türkei, die in Gefangenschaft die Nahrung verweigert. In meinem Film glaubt die Mutter eines der Verschwundenen, daß ihr Sohn zu einer Taube geworden ist. Darum geht sie jeden Tag in die Stadt und füttert die Tauben. Mit dem Titel möchte ich sagen, die Menschen sind Tauben, doch die Verschwundenen sind »Boran«. F: »Boran« ist auch der Name eines Sturms in Anatolien ... Ja, die Menschen in der Türkei lieben es, ihren Kindern diesen Namen zu geben. Aber ich habe den Titel gewählt, um an die wilde Taube zu erinnern. Grup Yorum, die die Filmmusik schrieben, haben auch ein Lied komponiert, das den Titel »Boran« trägt. Es handelt vom Hungerstreik politischer Gefangener. Eine Zeitlang war es sogar gefährlich, die Taube als Symbol zu erwähnen. F: Grup Yorum sind eine bekannte türkische Band. Haben Sie nur für diesen Film mit ihnen zusammengearbeitet? Wir arbeiten häufig zusammen. Ich hätte auch mit anderen Musikern arbeiten können. Aber für »Boran« wollte ich mit Leuten arbeiten, die die emotionale Erfahrung hatten. Auch Grup Yorum war mehrere Male in Haft. Vielleicht sind sie keine perfekten Musiker, aber sie verstehen es sehr gut, die Emotionen der Menschen in Musik umzusetzen. F: Sie haben in Ihrem Film nicht mit professionellen Schauspielern gearbeitet, sondern mit den »Samstagsmüttern« ... Für die Samstagsmütter war es nicht schwer, sie spielten ihr tägliches Leben. Ich hatte Angst, die Teilnahme an dem Film würde ihre Erinnerungen wieder wachrufen. Aber sie sagten nur: »Lieber Sohn, wir können das Ganze ohnehin nicht vergessen. Wir sorgen uns mit und ohne den Film.« Während wir drehten, unterlief ihnen kein einziger Fehler. Das hat mich sehr beeindruckt. Manche von ihnen haben nie das Drehbuch gelesen, weil sie weder lesen noch schreiben können. F: Es ist ja fast ein Wunder, daß Ihr Film einen Preis des türkischen Kulturministeriums erhalten hat... Auch ich war sehr überrascht, als »Boran« im Oktober 1999 zum Antalya-Kurzfilm-Festival eingeladen wurde. Ich habe mich sehr darüber gefreut. Normalerweise darf so ein Film in der Türkei nicht gezeigt werden. Die Jury war international zusammengesetzt, und ich bin überzeugt, daß sie »Boran« für den Preis genau wegen der Situation in der Türkei vorschlugen. Jetzt kann der Film nicht mehr verboten werden. F: An welches Publikum richten Sie sich hier in Deutschland? An die Kinder der kurdischen und türkischen Einwanderer und Flüchtlinge oder eher an die »Deutschen«? Ich möchte so viele Menschen wie möglich erreichen, auch unpolitische Leute, die aus Spaß ins Kino gehen. Ich überzeugt, daß die Menschen etwas tun werden, wenn ich ihnen meine Geschichte erzählen kann. Die meisten Flüchtlinge, die hier leben, haben sicherlich noch schlimmere Geschichten zu berichten. F: 1996, als Sie begannen, die ersten Aufnahmen für Ihren Film zu drehen, war die Situation in der Türkei anders als heute. Wie wirkt sich der Kandidatenstatus der Türkei für die Europäische Union auf die Arbeit eines oppositionellen Filmemachers aus? Heute ist es möglich, meinen Film zu zeigen, das ist schon eine Veränderung. Aber die Bedingungen in der Türkei haben sich noch nicht wirklich geändert. Man versucht, den Kapitalismus zu perfektionieren. Die Demokratie, von der gesprochen wird, entspricht den Vorstellungen der Eliten, nicht denen des Volkes. Der türkische Staat will jetzt Isolationsgefängnisse einführen, diese Idee kommt aus Europa. Isolation ist das schlimmste Verbrechen, das Menschen angetan werden kann. Europa findet das gut, keine blutige Folter mehr. Aber die Menschen werden trotzdem sterben, in völligem Schweigen. Mein nächster Film wird über die Isolationsgefängnisse in der Türkei sein. Eine Antwort auf dieses Problem liegt in Europa. In der Türkei sagt man, die neuen Gefängnisse sind »europäischer Standard«. Damit meint man, es ist was Gutes. Aber dieser Standard ist schlecht. Ich habe mit früheren politischen Gefangenen gesprochen, mit Irmgard Möller, mit Günter Sonnenberg. Ich werde andere ehemalige Gefangene und Angehörige in Frankreich und im Baskenland treffen. Das Filmprojekt möchte ich bis Ende des Jahres fertigstellen, weil dann der türkische Staat mit der Umsetzung des Isolationsprogramms beginnen will. Wenn ich meinem Volk zeigen kann, was »europäischer Standard« wirklich bedeutet, werden es die Menschen in der Türkei besser verstehen. Interview: Karin Leukefeld *** Veranstaltungen mit Aufführung des Films »Boran« (Original mit englischen Untertiteln) am 10.11. Saarbrücken; 19.11. Berlin; 24.11. Frankfurt/Main (mit Grup Yorum); 25.11. Darmstadt; 26.11. Stuttgart; 28.11. Nürnberg; 3.12. Hamburg; 5.12. Bielefeld; 7.12. Bonn. Alle Veranstaltungen finden im Rahmen der Libertad-Kampagne »Kein Stammheim am Bosporus« statt. Hüseyin Karabey ist anwesend. Weitere Informationen: www.libertad.de
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