Frankfurter Rundschau, 08.11.2000 Integration ohne Angst Dass der völkisch angehauchte Leitkultur-Vorstoß von Unions-Fraktionschef Friedrich Merz teilweise zum Toleranz-Appell mutierte, verweist auf eine erfreuliche Entwicklung Von Stephan Hebel Vielleicht war es das letzte Bremsmanöver. Dass der völkisch angehauchte Leitkultur-Vorstoß von Unions-Fraktionschef Friedrich Merz teilweise zum Toleranz-Appell mutierte, verweist auf eine erfreuliche Entwicklung: Bis in CDU und CSU hinein wachsen Neigungen, die Wirklichkeit wahrzunehmen, und ökonomische Interessen tun ein Übriges: Es wird politisch langsam unmöglich, weltweiten Wanderungsbewegungen mit dem erhobenen Fähnlein einer homogenen Nationalkultur entgegenzumarschieren. Es scheint sich die Einsicht zu verbreiten, dass das "Problem" nicht verschwindet, wenn man es innerlich abwehrt oder ignoriert. Noch garnieren Angela Merkel und Peter Müller ihr Einsehen mit übel wahlkämpferischen Sprüchen vom angeblich massenhaften "Rechtsmissbrauch" durch Flüchtlinge. Und noch nehmen sie nicht Abstand von der unseligen Verknüpfung zwischen gewollter Einwanderung und widerwillig geduldetem Asyl. Aber wo selbst die Wirtschaft als eigentliche "Leitkultur"-Trägerin nach Offenheit ruft, verliert der irrationale Umgang mit dem Thema an Wirkung. Es öffnet sich der Raum für eine Zuwanderungs-Debatte, die die Tatsache der Migration zur Kenntnis nimmt - und Toleranz wie Gesetzestreue nicht exklusiv Ausländern abverlangt. Alles wunderbar Multikulti also? Nein, die Arbeit fängt erst an. Zu erfinden wäre ein Einwanderungs-Diskurs jenseits der Frontlinie Leitkultur gegen Multikulti. Zu verständigen hätten sich Kirchen und Bürgerinitiativen mit Politikern von Rot-Grün bis hin zum (kleinen) Süssmuth-Flügel der CDU. Sie sollten sich weiter gegen unsinnige Fantasien einer homogenen deutschen Kultur wenden. Aber sie sollten auch die Fragen stellen, die sonst andere allzu schnell beantworten: Was wird aus dem Anspruch auf Zuflucht für Asylbewerber und Bürgerkriegsflüchtlinge? Welche und wie viele Einwanderer wollen und brauchen wir darüber hinaus? Nach welchen Kriterien nehmen wir sie auf? Wer muss, nach welchen Regeln, gehen? Herauskommen könnten Konzepte, die an humanitären Regeln für Asyl und Kriegsopfer festhalten, vor allem also: die institutionelle Asyl-Garantie des Grundgesetzes unangetastet lassen. Herauskommen könnte für ökonomisch motivierte Einwanderung eine Quote, die in Abständen von einem oder zwei Jahren neu festzulegen wäre. Herauskommen könnte die Legalisierung des Aufenthaltsstatus von Menschen, die ohne formales Bleiberecht seit Jahren hier leben. Und herauskommen könnte ein neuer Umgang mit Abschiebungen: Behörden könnten ja - statt sich an inhumane Formalismen zu klammern - einmal fragen, wie sehr jemand hier schon zu Hause ist. Wenn dieser Umgang mit Migration in der Politik Mainstream würde, dann hätten wir den Klima-Umschwung von der Angst- und Abwehrhaltung hin zu einer Offenheit für Fremde, die die Interessen des Aufnehmenden keineswegs vernachlässigen muss. Auch das aber genügt noch nicht: Geregelte Aufnahme unter der Voraussetzung von Verfassungs- und Gesetzestreue, die jetzt als Grundlage des Zusammenlebens gefordert wird, muss auch herunterdekliniert werden auf den konfliktträchtigen Alltag. Gerade diejenigen, denen eine offene Gesellschaft am Herzen liegt, sollten die Probleme benennen, damit das Thema nicht wieder in die Hände der Populisten gerät. Denn die Ängste, die immer noch auf Fremde projiziert zu werden drohen, haben einen realen Hintergrund. Die Kreuzbergerin, die ihre Bekannten (deutsche oder türkische) in "bessere Viertel" wegziehen und sozial schwache Familien (türkische und deutsche) nachrücken sieht, ist mit blanken Appellen an den "Verfassungspatriotismus" so wenig zu beruhigen wie der Rentner in Hamburg-Wilhelmsburg, der sich von fremden Nachbarn diffus bedroht fühlt. Wer Angst hat vor der neuen, multi-ethnischen Welt, muss noch kein Ausländerfeind sein - womöglich wird er erst einer, wenn er sich allein gelassen fühlt. Dieser Gefahr wäre außer Appellen und Quoten eine politische Praxis entgegenzusetzen, die die Möglichkeit friedlicher Koexistenz erlebbar macht. Natürlich zieht es Einwanderer dorthin, wo man ihre Sprache schon spricht. Aber dass - politisch ohnehin nicht erwünschte - Gettobildung die alteingesessenen Nachbarn verunsichert, ist ebenso verständlich. Dies kann nur überwinden, wer den Integrationsbegriff mit sozialstaatlichen statt nationalkulturellen Inhalten füllt. Die oft als Vorwand für Abschottung beschworene begrenzte Integrationskraft der Deutschen ist keine schicksalsgegebene Größe, sondern hat mit politischem Willen zu tun: mit dem Willen, die Gewöhnung der Kulturen aneinander als Chance zu begreifen und dann auch Geld einzusetzen: für Wohnungen, Sprachkurse, Religionsunterricht und vieles mehr. So schwierig ist das alles nicht - vorausgesetzt, Deutschland ist wirklich nicht mehr geprägt von Fremdenangst und völkischem Irrglauben. Die Verantwortlichen müssten nur der eigenen Forderung nach Verfassungstreue und Toleranz folgen. Sie müssten den Auftrag ernst nehmen, Verfolgten Asyl zu gewähren und das Diskriminierungsverbot auf alle hier lebenden Menschen anzuwenden.
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