Die Presse (Wien), 09.11.2000

Die Aufnahme erster Mitglieder könnte im Jahr 2004 erfolgen

Brüssel will bis 2002 die Verhandlungen mit den ersten Beitrittskandidaten abschließen.

Von unserer Korrespondentin DORIS KRAUS

BRÜSSEL. "Es spitzt sich darauf zu, daß die erste Erweiterung 2004 stattfindet." Das erklärte Österreichs EU-Kommissar Franz Fischler zu den Jahresberichten über den Verhandlungsstand, die die Kommission gestern, Mittwoch, in Brüssel präsentierte. Den Vorwurf, daß die Kommission dennoch versuche, die Verhandlungen hinauszuzögern, wies der Sprecher von Präsident Romano Prodi, Jonathan Faull, entschieden zurück. Die EU-Kommission legte zum ersten Mal einen konkreten Fahrplan vor, der den besten Kandidaten den Abschluß der Verhandlungen bis Mitte 2002 ermöglichen würde. In der ersten Hälfte 2001 würden Bereiche wie freier Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital sowie die Umwelt verhandelt, in der zweiten Jahreshälfte die für Österreich wichtigen Kapitel Verkehr und Energie und in der ersten Hälfte 2002 alle teuren Politiken wie Landwirtschaft und Strukturpolitik sowie die Institutionenfragen. Wer am Ball bleibt, hat Chancen, die Verhandlungen im Laufe von 2002 zu beenden. Die Ratifizierung könnte zwischen zwölf und 18 Monaten dauern, womit alles auf eine Beitrittsrunde Mitte 2004 oder Anfang 2005 hindeutet. Alle Bewerber mit Ausnahme Rumäniens, Bulgariens und der Türkei erhielten in diesem Jahr Noten zwischen "gut" und "genügend". Die meiste Aufmerksamkeit galt Polen, das zum ersten Mal von Brüssel relativ sanft behandelt wurde. "Polen ist die entscheidende Frage", sagte Fischler. "Wenn Polen ins Trudeln gerät, dann sind wir in Schwierigkeiten." Zur nuklearen Sicherheit hielt sich die Kommission zurück. Zwar betont sie die Bedeutung hoher Sicherheitsstandards, doch kommt das tschechische AKW Temelín im neuen Strategiepapier mit keinem Wort vor. Dafür spielte aber Erweiterungskommissar Günter Verheugen am Dienstag telephonisch erstmals den Vermittler: Er sprach mit Bundeskanzler Schüssel und dem tschechischen Außenminister Jan Kavan über den Polit-Spaltpilz Temelín.

DIE LÄNDERBERICHTE

Ungarn erntet von der EU-Kommission viel Lob und nur relativ wenig Tadel. Das Land hat insgesamt einen guten Stand bei der Vorbereitung auf die Mitgliedschaft erreicht. Infrastruktur und Industrie wurden reformiert, ausländische Investitionen strömen ins Land. Sorgen bereiten neben Inflation, Arbeitslosenraten und Korruption vor allem die Umwelt. Tschechien. Brüssel bescheinigt Prag, den Reformmotor wieder angeworfen zu haben, vor allem beim freien Warenverkehr, Telekom, Beschäftigung und Soziales. Das Wachstum ist zurückgekehrt, die Inflation unter Kontrolle. Kritik gibt es an der Korruption, Verwaltungsreform und Grenzkontrolle. Das AKW Temelín wird nicht erwähnt. Polen, der größte und politisch wichtigste Beitrittskandidat, erhält in diesem Jahr zum ersten Mal ein grundsätzlich positives Erweiterungszeugnis - allerdings mit einem großen Minus: der Landwirtschaft. Sorgen macht sich Brüssel auch um die Folgen des Wachstums: hohe Inflation und ein Handelsdefizit. Slowenien ist der Mitgliedschaft in der EU laut "Jahreszeugnis" einen großen Schritt näher gekommen. Unbeschadet der Regierungskrise gelang es Laibach, auf Gebieten wie Umwelt, Landwirtschaft, freier Waren- und Personenverkehr sowie Energie signifikante Fortschritte zu erzielen. Weniger begeistert ist Brüssel davon, daß die Privatisierung langsam voranschreitet. Estland hatte bisher zwei Handicaps: die Behandlung der russischen Minderheit und einen eklatanten Mangel an qualifizierten Beamten. Das erste Problem wurde mittels Sprachengesetz in Angriff genommen, doch drängt die EU auf eine effiziente Umsetzung. Die Modernisierung der Verwaltung läßt weiter zu wünschen übrig. Zyperns einziger Stolperstein auf dem Weg in die EU ist ein politischer: die Teilung in eine griechische und eine türkische Hälfte seit 1974. Malta hat mit Riesenschritten aufgeholt. Politische Probleme gibt es keine, doch hinkt die Gleichstellung der Geschlechter auf der tief religiösen Insel hinten nach. Brüssel fordert von Malta eine Reform der Sozialversicherung, um das Budget zu entlasten. Die Slowakei hat nach dem ersten Verhandlungsjahr eine gemischte Bilanz vorzuweisen. Zwar ist die Demokratisierung unter der Regierung von Mikulás Dzurinda weiter fortgeschritten, doch ging dem Reformprozeß insgesamt etwas die Luft aus. Die Situation der Roma und der unabhängigen Justiz muß verbessert werden. Lettland hat einen seiner Hemmschuhe auf dem Weg in die EU abgestreift: die Benachteiligung der russischen Minderheit. Der Korruption wurde der Kampf angesagt, die Beamtenreform begonnen. Problematisch bleiben die Regionalpolitik. Litauen hat sich die Note "zufriedenstellend" verdient. Unbeschadet seiner finanziellen Schwierigkeiten gelang es dem baltischen Staat, auf zahlreichen Gebieten Fortschritte zu machen. Die Beamtenreform ist auf dem Weg, Maßnahmen gegen Korruption wurden erlassen, der Bankensektor privatisiert. Bulgarien gehört zu den Problemkindern der Erweiterung und wird in Brüssel als dem Wettbewerbsdruck des freien Markts noch nicht gewachsen erachtet. Korruption wird als ernstes Problem erachtet. Rumänien ist auch diesmal Klassenletzter. Zwar hat Bukarest die Forderung Brüssels nach besserer Behandlung der Waisenkinder erfüllt, doch sorgt sich die Kommission weiter um die Diskriminierung der Roma. Korruption bleibt ein ernstes Problem. Das größte Problem aber ist die schlechte Wirtschaftslage. Die Türkei bleibt weiterhin Außenseiter. Zwar ist sie seit Dezember 1999 offiziell Kandidat, doch verhandelt die EU mit ihr noch nicht über EU-Mitgliedschaft. Der offizielle Grund ist, daß die Türkei die politischen Kopenhagen Kriterien auch in diesem Jahr nicht erfüllt. Probleme mit den Menschenrechten und "kulturellen Rechten" für alle Türken, egal welcher ethnischer Herkunft, bestehen weiter.