junge Welt, 10.11.2000 Kampagne gegen Kurden Wegen angeblich falscher Namensangaben sollen mehrere Familie abgeschoben werden »Türkische Großfamilien haben in den vergangenen Jahren den Landkreis Northeim um Sozialhilfe in Höhe von über sechs Millionen Mark betrogen.« So oder ähnlich berichteten Lokalzeitungen in den vergangenen Wochen über Ermittlungen der Polizei und der Northeimer Ausländerbehörde gegen rund 60 in der Region lebende Kurden. Stimmungsmache gegen Ausländer sei das, urteilen dagegen Flüchtlingsinitiativen. Tatsächlich ist in den Ermittlungsakten von Sozialhilfebetrug überhaupt nicht die Rede, und einen solchen Straftatbestand gibt es rechtlich auch gar nicht. Vielmehr werden die Familien der Identitätstäuschung bezichtigt. Sie sollen sich in ihren Asylverfahren zunächst als türkische Staatsbürger, später als staatenlose Libanesen ausgegeben haben. Dies sei ein Verstoß gegen das Ausländergesetz. Die Familien, die teilweise schon 20 Jahre in Deutschland wohnen, erhielten Aufforderungen zur Ausreise. Kämen sie dieser Aufforderung nicht nach, würden sie abgeschoben, kündigten die Behörden an. Aber auch der Vorwurf der Identitätstäuschung läßt sich kaum aufrechterhalten, wenn man die Einlassungen der Beschuldigten anhört. Fünf Männer aus den betroffenen Familien schilderten gegenüber junge Welt ihre Fluchtgeschichten. Ihre Groß- und Urgroßeltern mußten Anfang des Jahrhunderts aus der Türkei in den Libanon flüchten, um Verfolgung und Massakern zu entkommen. Dort lebten die Familien in Flüchtlingslagern als »Staatenlose« und deshalb ohne jede Bürgerrechte. In den achtziger Jahren flohen die Kurden wegen des Bürgerkrieges aus dem Libanon nach Deutschland. Einige blieben ein paar Monate in der Türkei, andere haben dieses Land nach ihren Angaben nur bei der Durchreise betreten. Auch die türkische Sprache beherrschten sie nicht. Ihre Asylanträge stellten die Kurden mit ihren provisorischen türkischen Reisedokumenten, aber mit ihrer wahren Identität als staatenlose Libanesen. Sie erhielten kein Asyl, wohl aber ein Aufenthaltsrecht wegen ihrer Staatenlosigkeit und des anhaltenden Bürgerkrieges im Libanon. Die Familien sind im Landkreis Northeim gut integriert, was auch Nachbarn, Lehrer und Pfarrer schriftlich bescheinigen. Einige der Kurden sind zur Zeit arbeitslos, andere haben einen Job, ein Mann hat sogar mit Erfolg den Schritt in die Selbständigkeit geschafft. Wenn überhaupt, dann hätten sie Sozialhilfe in den vergangenen Jahren nur als ergänzende Leistung erhalten, weil kein Anspruch auf Kindergeld bestand. Über angeblich erschlichene Sozialhilfe in Höhe von sechs Millionen Mark können die Männer nur den Kopf schütteln. Polizei und Landkreis Northeim wollen nun nach zweijährigen Recherchen einer »Ermittlungsgruppe Libanon« herausgefunden haben, daß die Kurden in Wirklichkeit aus der südostanatolischen Provinz Mardin stammen. Ihre Geschichte mit der Staatenlosigkeit hätten sie nur aufgetischt, um nicht abgeschoben zu werden. Woher sie ihre Erkenntnisse hat, verrät die Polizei nicht. Den Vorwurf, schlampig ermittelt zu haben, weist sie aber vehement zurück. Der Straftatbestand der Identitätstäuschung sei erfüllt, teilte Northeims Polizeidirektor Hanns-Walter Rusteberg Journalisten auf Anfrage mit. Die betroffenen Kurden haben jetzt Rechtsanwälte eingeschaltet, um die Beschuldigungen zu entkräften. Das Göttinger Beratungszentrum für Flüchtlinge appellierte an den Landkreis Northeim, unabhängig von der weiteren juristischen Prüfung der Angelegenheit die in Deutschland geborenen Kinder der Familien von den geplanten Abschiebungen auszunehmen. »Diese wären eine humanitäre Katastrophe«, sagte der evangelische Pfarrer Knut Wellmann gegenüber jW. Reimar Paul
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