Neue Zürcher Zeitung, 10. November 2000 Türkische Erleichterung über die EU Gelassenheit nach dem Situationsbericht aus Brüssel it. Istanbul, 8. November Die türkische Presse hat am Donnerstag auf den am Vortag in Brüssel veröffentlichten EU-Bericht über die Lage der Beitrittskandidatin Türkei trotz aller Kritik erstaunlich gelassen reagiert. Dieser Bericht sei ein Zeugnis dafür, dass die EU die Türkei nicht herausfordern wolle, kommentierte die liberale Tageszeitung «Milliyet», während die armeefreundliche «Hürriyet» erleichtert feststellte, der Bericht sei mit besonderer Vorsicht geschrieben und berühre die empfindlichen Seiten der türkischen Psyche nicht. Fast schadenfreudig weist die englischsprachige «Turkish DailyNews» darauf hin, dass ein Grossteil der bekannten europäischen Kritik verwässert worden sei. Eingeschränkte Meinungsfreiheit Der Bericht der EU-Kommission hat der Türkei im Bereich der Menschenrechte, der Demokratisierung und der Wirtschaft schlechte Zeugnisse ausgestellt. Ankara erfülle die politischenKriterien für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nicht, heisst es. Man sei besorgt über die unzureichende Achtung der Menschenrechte, über die fehlenden Rechte der Minderheiten sowie über die verfassungsmässig verankerte Rolle, welche die Armee im politischen Leben spiele. Die Meinungs- und die Versammlungsfreiheit würden noch immer regelmässig einschränkt. In einem Kapitel über Reformen, die bis Ende 2001 erfüllt werden müssten, fordert die EU-Kommission Ankara auf, Radio- und Fernsehsendungenin diversen Muttersprachen zuzulassen. Die Abschaffung der Todesstrafe sowie der Schulunterricht in anderen Muttersprachen als dem Türkischen wurden dem Kapitel der mittelfristigenZiele zugeteilt. Dass die Lösung des Zypern-Konflikts als kurzfristiges Ziel explizit erwähnt wird, ist laut «Hürriyet» ein Schock. Im Übrigen zeigt sich Ankara aber zufrieden. Die EU habe Rücksicht auf die Sensibilität der Türkei genommen, erklärte der ehemalige Botschafter Ilter Türkmen. Das Lob des Botschafters und der Presse gilt der Tatsache, dass im Bericht weder das Wort Kurde vorkommt noch der Begriff Minderheit definiert wird. Auch politisch heikle Gesetze, wie Artikel 8 des Antiterrorgesetzes oder Artikel 312 des türkischen Strafgesetzbuches, Grundlage für die Inhaftierung zahlreicher Intellektueller, wurden nicht erwähnt. Bitter fällt hingegen die Kritik kurdischer Organisationen aus. Dass im EU-Dokument keinerlei Bezug auf die Identität der 15 Millionen Kurden genommen werde, bezeichnet der Nationale Kurdische Kongress, welcher der PKK nahe steht, alseinen Beweis von Doppelmoral. Ein Dachverband für bekannte, hauptsächlich in Westeuropaniedergelassene kurdische und türkische Intellektuelle bezeichnete den Bericht als ein Zeugnis dafür, dass die EU ihre eigenen Werte nicht ernst nehme. Nationalist wacht über Menschenrechte Ankara, 9. Nov. (dpa) Hüseyin Akgül, ein Politiker der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung, ist zum neuen Vorsitzenden derMenschenrechtskommission im türkischen Parlament gewählt worden. Akgül löste Sema Piskinsütvon der Demokratischen Linkspartei ab, berichtete die Nachrichtenagentur Anatolia am Donnerstag. Beobachter erwarten, dass unter der Leitung Akgüls keine Berichte mehr über Folter inder Türkei zu erwarten sind. Unter Piskinsüts Leitung hatte die Kommission umfassende Berichte über Folter auf türkischen Polizeiposten verfasst.
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