junge Welt, 11.11.2000 Wie sehen Sie den Stand der Beziehungen EU-Türkei? jW sprach mit Mehmet Sahin, Mitinitiator der Deklaration »Die Europäische Union, die Türkei und die Kurden« F: Wie ist aus Ihrer Sicht der 8. November - als in Brüssel der Öffentlichkeit mitgeteilt wurde, wie mit der beantragten EU- Mitgliedschaft der Türkei umgegangen wird - verlaufen? Bei ihren Besuchen in Ankara - so z. B. der deutsche EU- Kommissar Verheugen im März und Juli dieses Jahres - sagten die europäischen Politiker, daß es ohne die Lösung der Kurdenfrage keinen EU-Beitritt geben wird und daß die Türkei die Kopenhagener Kriterien ohne Wenn und Aber erfüllen muß. Mit dem am Mittwoch vorgelegten EU- Dokument zur türkischen Beitrittspartnerschaft wurde aber deutlich, daß Europa sich Ankara angenähert hat und daß nicht die Kopenhagener, sondern die Kriterien von Ankara gelten. Die seit Tagen von türkischen Medien verbreiteten Berichte trafen also zu, wonach das EU-Dokument zur türkischen Beitrittspartnerschaft keine »negativen Botschaften«, wie es der türkische Außenminister wörtlich formulierte, beinhaltet und darin nicht einmal die Wörter »Kurden« und »kurdisch« auftauchen. Dieses Dokument, das den Abgeordneten des Europäischen Parlaments vorenthalten wurde, verteilten nun türkische Journalisten in Brüssel als Zeugnis des Erfolges ihres Staates. Dieses EU-Dokument zur türkischen Beitrittspartnerschaft bedeutet, daß Europa die Kurden zum zweiten Mal binnen zwei Jahren belogen und »verraten« hat. Das erste Mal geschah dies, als der Vorsitzende der PKK, Abdullah Öcalan, sich in Europa aufhielt und seine Bereitschaft zu einer friedlichen Lösung der Kurdenfrage erklärte. Bundeskanzler Schröder und der damalige italienische Ministerpräsident D'Alema sowie ihre Außenminister Fischer und Dini erklärten am 27. und 28. November 1998, daß sie eine »Europäische Initiative zur Lösung der Kurdenfrage« starten werden. Dadurch wurden bei den Kurden große Hoffnungen geweckt, aber anschließend wurde Öcalan aus Europa verjagt und an seine Gegner ausgeliefert. F: Welche Forderungen von kurdischen Organisationen, die sich im Vorfeld zu den Verhandlungen äußerten, gab es zur türkischen »Beitrittspartnerschaft«? Akin Birdal, Hüsnü Öndül und andere prominente Menschenrechtler waren im Oktober in Brüssel. Sie führten Gespräche mit EU-Politikern. Auch in Europa lebende Kurden haben ihre Vorschläge und Forderungen der Kommission mitgeteilt. In den vergangenen Tagen haben wir, als eine Gruppe in Europa lebenden Kurden verschiedener politischer Couleur, eine Deklaration »Die Europäische Union, die Türkei und die Kurden« verfaßt. Sie wurde innerhalb einer Woche von über 80 in verschiedenen europäischen Ländern lebenden kurdischen Intellektuellen unterstützt und getragen. Wir haben sie in den vergangenen Tagen an die EU und an die Außenminister der EU-Mitgliedsländer verschickt und am 8. November im Rahmen einer Pressekonferenz in Brüssel vorgestellt. Darin finden sich die elementaren Grundrechte und -freiheiten des kurdischen Volkes und Schritte zur Demokratisierung der Türkei wieder. F: Haben Ihre Forderungen und politischen Ziele Gehör gefunden? Wie ist auf offizieller Seite damit umgegangen worden? In dem EU-Dokument zur türkischen »Beitrittspartnerschaft« werden die allgemeinen Schritte zu Menschenrechten und zur Demokratisierung der Türkei benannt. Benannt wird aber nicht das Hauptproblem. Wie in der Vergangenheit ist auch heute die Kurdenfrage das Hauptproblem der Türkei, das auf keine Weise einer Lösung nähergebracht werden konnte. Ob in der Türkei die Demokratie mit all ihren Institutionen Fuß fassen kann, die Menschenrechte in ihrer vollen Bedeutung verwirklicht werden können, die wirtschaftliche Notlage überwunden werden und das Land auf den Weg der Entwicklung und des Fortschritts gelangen kann, hängt von der demokratischen und gerechten Lösung der Kurdenfrage ab und ist eng hiermit verknüpft. Mit diesem Dokument wurden die wichtigsten Forderungen der Kurden beiseite geschoben und eine starke Rücksicht auf die »Sensibilität« der Türkei genommen. Es ist zugleich ein Zeugnis dafür, daß die EU ihre eigenen Werte nicht ernst nimmt. Es ist ein Beleg der Doppelmoral. F: Wie bewerten Sie die Politik der deutschen Regierung von SPD und Grünen, die ja zu Oppositionszeiten von Kohl eine Wende in der Türkei-Politik einforderten? Wir haben jahrelang mit vielen Politikern der Grünen und der SPD gemeinsam gegen die Waffenlieferungen, gegen die Abschiebung der vor dem Krieg nach Deutschland geflohenen Opfer demonstriert und die Einstellung der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Unterstützung des Krieges gegen das kurdische Volk gefordert. Nun haben seit zwei Jahren unsere Bündnispartner die Macht. Was hat sich in den oben genannten Bereichen positiv getan? Wurden die Waffenlieferungen eingestellt oder Abschiebungen gestoppt? Oder ein positiver Beitrag für Frieden, Demokratisierung und für die Lösung der Kurdenfrage eingeleitet? Oder die Kriminalisierung der Kurden eingestellt? Auf der anderen Seite hat die PKK seit über einem Jahr einseitig ihre Waffen ruhen lassen und ihre Kämpfer aus der Türkei zurückgezogen. Eigentlich sollte die Bundesregierung beginnen, den neuen friedlich-demokratischen Kurs der Kurden zu unterstützen und einen positiven Beitrag zum Frieden in der Türkei zu leisten. Vergeblich. Waffen werden weiter in Milliardenhöhe geliefert. Tagtäglich lesen wir über Tragödien der Abgeschobenen Kurden und zerrissenen Familien. Interview: Thomas Klein
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